Das letzte Foto
Alison:
Zuhause lege ich meinen Schlüssel auf die Anrichte neben der Haustür. Ich hänge meine Jacke an die Garderobe, und schlendere den Flur entlang in die Küche. Alicia hockt vor dem Backofen, und schaut immer wieder auf ihre Armbanduhr. Sie hebt den Kopf, als ich den Raum betrete.
"Hi, Alison", begrüßt sie mich, und betrachtet mich mit gerunzelter Stirn.
"Hallo, Alicia. Was machst du?", frage ich sie.
"Ich backe Kekse, zumindest versuche ich es", sie richtet sich auf, klopft sich das Mehl von der Hose, und kommt auf mich zu. Sie umarmt mich kurz aber herzlich. Haucht mir einen Kuss auf die Wange.
"Wie war dein Tag?", flötet sie, während sie sich auf einen Hocker an der Küchentheke setzt. Jeden Tag fragt sie mich. Wie ein Ritual.
"Gut.", antwortet ich, wie jeden Tag. Wer will schon ein Ritual durchbrechen?
"Was hast du so gemacht?", hakt sie nach, auch wie jeden Tag.
"Ich war in der Uni, langweilige Vorlesung. Dann war ich im Park. Ich wollte ein wenig fotografieren."
Alicia sah etwas argwöhnisch zum Backofen. Als ob er vielleicht absichtlich die Kekse verbrennen würde, nur um sie zu ärgern.
"Und? Hast du tolle Motive gefunden?", wollte sie wissen, ohne den Blick vom Backofen zu nehmen.
"Nein, nichts Interessantes.", antwortete ich tonlos, und schaute ebenfalls zum Backofen. Die Kekse bräunten sich langsam, es roch wirklich gut.
Alicia drehte den Kopf wieder zu mir, und ohne hinzusehen, wusste ich, dass sich auf ihrer Stirn eine Furche bildete. Genauso wie ich wusste, dass sie dasselbe dachte wie ich:
Ich hatte seit 8 Monaten kein Foto mehr gemacht.
Seit diesem Tag. Dem Tag, als sich mein Leben veränderte. Als ich mein und sein Leben zerstört habe. Wills Leben.
Mein letztes Foto machte ich von Will.
Ich wusste noch, wie er gelacht hat. Wie er mich Christinacht hat. Seine grau-grünen Augen strahlten mich an. Seine kurzen, blonden Locken umrahmten sein Gesicht. Niemand konnte so lächeln wie er. Ich liebte sein Lächeln. Er drehte sich gerade zu mir um, und ich machte den Schnappschuss. Mein letztes Foto.
Ich hatte es immer noch nicht entwickelt. Der Film lag in der Schreibtischschublade, ganz nach hinten geschoben. Ich öffnete die Schublade nie so weit, dass ich den Film sehen könnte.
Nur Stunden nach dem Foto gab es Will nicht mehr.
Alicia sprang vom Stuhl und auf den Backofen zu. Sie schnappte sich die Topflappen, riss die Ofentüre auf, und zog das erste Blech heraus. Sie legte es auf zwei Untersetzern ab, und zog das zweite Blech heraus. Mit ihrer Hüfte schubste Alicia die Ofentüre zu, und legte das heiße Ofenblech auf dem Herd ab.
"Yeah, ich kann doch backen.", triumphierend sah sie mich an. Ich zwang mich zu lächeln.
"Wer soll die denn alle essen?", fragte ich, und wies auf die unzähligen Kekse. Alicia backte schon den ganzen Tag, und hatte Unmengen an Keksen und Plätzchen produziert.
Alicia verzog kurz das Gesicht.
"Ähm, die Anderen kommen gleich vorbei."
"Oh.", mehr bekam ich nicht raus, so überrumpelt war ich.
"Alison.", Alicia umrundete die Theke, und kam auf mich zu.
"Ich glaube, ich muss noch was für die Uni morgen vorbereiten.", ich machte einen Schritt nach hinten. Es war ein halbherziger Versuch den Abend zu umgehen. Doch Alicia ließ das nicht zu. Sie dachte bestimmt, sie hätte es schon zu lange zugelassen. Sie nahm mich am Arm, und zog mich ins Esszimmer.
"Alison, nein. Das sind unsere Freunde. Du wirst heute nicht verschwinden. Vergiss es! Und wenn ich dich am Stuhl festketten muss." Alicia zog ihre dunklen Augenbrauen hoch, und ihre braunen Augen blitzten mich an. Obwohl sie so zierlich war, traute ich ihr zu, ihre Drohung wahr zu machen. Doch heute hatte ich keine Kraft zum Diskutieren. Und ich wollte Alicia nicht verärgern. Ich brauchte sie. Wahrscheinlich mehr, als ich mir eingestehen wollte.
Also wuselte Alicia durch die Wohnung. Säuberte die Küche, richtete den Esstisch her und zauberte sich in die perfekte Gastgeberin.
Obwohl Wills Tod sie sehr getroffen hatte, lebte sie doch weiter. Ging ihren Weg. Alicia hatte sehr darunter gelitten, aber sie war nicht alleine. Dominic hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes aufgefangen. Sie waren für einander da gewesen. Hielten sich gegenseitig, stützten sich. Ihre Liebe war nur noch stärker geworden, wenn das überhaupt möglich war. Natürlich vermissten sie Will auch, und dachten bestimmt oft an ihn. Aber sie hatten gelernt damit umzugehen. Und so konnten, und durften sie beide glücklich weiterleben. Denn das waren sie. Glücklich miteinander. Sie hatten es verdient. Beide waren gute Menschen. Die Besten. Wie Will.
Ich hatte sie nicht verdient.
Es klingelte an der Tür und Alicia tänzelte Richtung Flur. Ich hörte ein großes Hallo, und Wiedersehensfreude. Okay, ich würde diesen Abend durchstehen. Seit Will Tod hatte ich an 2-3 Treffen unserer Clique teilgenommen. Vor den meisten Begegnungen hatte ich mich drücken können. Teilgenommen, okay, das war vielleicht zu viel. Ich war anwesend. Mehr nicht. Schaute mit leerem Blick in mein Glas, und blendete alles aus. Meistens reichte das den Anderen. Und wenn ich diesen Abend geschafft habe, war Alicia wieder ein paar Wochen beruhigt.
Also würde ich tapfer sein. Alicia zuliebe. Aber später würde ich mich in mein Bett verkriechen, und vergeblich versuchen mal eine Nacht ohne Alpträume zu haben.
Ich hörte näherkommende Schritte, vertraute Stimmen. Ich schloss noch mal meine Augen, atmete tief ein. Unter größter Anstrengung zwang ich mir ein Lächeln auf mein Gesicht, öffnete meine Augen, und drehte mich zur Tür.