Wie schön das Leben sein konnte! Das Wochenende hatten sie miteinander verbracht. Alles war so gewesen wie davor- bevor sie diesen Abend mit Micha und Elli verbracht hatten.
Am Samstag waren sie nach München gefahren und hatten am Rathausplatz mit ihrem neuen Projekt begonnen. Dieses wollten sie in den nächsten Monaten in verschiedenen Städten durchführen. Er war der aktive Teil, sie stand im Hintergrund und filmte mit dem Smartphone das Geschehen. Das Projekt war recht einfach. Er setzte sich in ungewaschener Kleidung auf eine zerlumpte Decke, neben sich einen Hut. Wie ein Bettler eben ! Daheim hatten sie zweisprachig (deutsch und englisch) Kartons beschriftet: „statt einer Münze gib mir lieber ein Lächeln oder ein freundliches Hallo“(instead a coin give me a smile or a friendly hello“). Immer wenn jemand vor ihm stehen blieb, hielt er die Kartons in die Höhe. Ihre Rolle war die einer Touristin, die filmte. Es gab viele sehr interessante Reaktionen, die meisten waren einfach verblüfft, das einem Bettler ein Lächeln wichtiger war als eine Spende. Und genau das wollten sie erreichen: den Menschen zu zeigen, was wirklich wichtig war. Besonders für die Menschen, die am untersten Rand der Gesellschaft waren. Trotzdem erhielt er auch etliche Münzen, so dass ihre Fahrtkosten sich amortisierten.
Das gab natürlich Gesprächsstoff für den Samstagabend. Sie sahen sich die Aufnahmen an, debattierten darüber und machten Pläne für den nächsten „Auftritt“. Dem folgte eine sehr schöne Nacht.
Den Sonntag verbrachten sie mit gemeinsamen Kochen, rumalbern und Gesprächen.
Diese Gespräche über Gott und die Welt liebte sie am meisten. Ob Politik, Glauben oder Wirtschaft: sie fanden immer Themen zu denen sie sowohl kontrovers als auch harmonierend ihre Meinungen wiedergaben, korrigierten und letztendlich beinah immer zu einem gemeinsamen Konsens kamen. Der „Konsens“ wurde dann immer mit einem feierlichen Schluck Wein „gefeiert“.
Dabei war es nicht immer so in ihrem Leben. Sie hatte vor ihm noch einmal geliebt. So wie man im Elan und der Unerschütterlichkeit der Jugend nur lieben konnte. Ihr damaliger Freund war dann irgendwann der Realität entglitten und begann, Drogen zu nehmen. Eines Abends hatten sie wegen einer Belanglosigkeit gestritten. Sie war wütend zu Freunden gefahren. Als sie nachts wieder heimkam, lag er tot auf der Couch. Überdosis! Sie hatte danach enorme Psychische Probleme. Irgendwann begann sie mit ehrenamtlichen Tätigkeiten. Diese füllten ihr Leben aus und durch das Kennenlernen des Leides anderer, wurde ihr eigenes Leiden geringer.
Dann lernte sie ihn kennen. Er war einfach anders. Sie hielt ihn für einen weltfremden Spinner. Bis sie einmal ein längeres Gespräch führten. In diesem Gespräch versuchte er ihr klarzumachen, dass ihr soziales Engagement eine falsche Ursache hätte. Sie solle erst den Menschen sehen und dann die Situation. Dann würde sie auch mehr als nur Befriedigung erleben. Sie würde zu wenig geben und zu viel nehmen. Dabei meinte er mit Nehmen das Bedürfnis, damit ihr eigenes Trauma zu bewältigen. Er hielt ihr den virtuellen Spiegel vor. An diesem Abend ging sie in dem festen Glauben heim, diesen Spinner und sein komischen Ansichten schnell zu vergessen. Doch stattdessen starrte sie immer wieder in den Spiegel, seine Worte waren wie eingebrannt darin.
Sie trafen sich wieder. Sie kam zu der Einsicht, dass sie bisher eher eine soziale Funktionärin war. Sie wurde zu einem mitfühlenden Menschen. Danach war auch ihr Trauma kaum noch von Bedeutung. Sie konnte aber auch ihm einige ihrer Ansichten näher bringen. Es entstand so was wie eine lockere Freundschaft. Bis er eines Abends mit einem Lachen verkündete, er wäre sich sicher dass sie innerhalb der nächsten Wochen miteinander schlafen würden. Daran hatte sie im Traum noch nicht gedacht und bedachte ihn nur mit einem Lächeln.
2 Wochen später war es so weit
Ihre Augen füllten sich mit dem Schmerz und der Süße der Erinnerungen. Zum zweiten Mal las sie die Zeilen auf dem vergilbten Papier. Ein Stück Papier aus den Zeiten, als die Welt noch in Ordnung war, als die Menschen noch Gefühle kannten und Ihre Sorgen eher banal waren. Sie hatte ihm das Papier nach dem wunderschönen Abendessen zusammen mit der Flasche kalten Champagner auf den Tisch gestellt. Dann ging sie ins Bad und kam später im Negligee zurück. Sie würde die Nacht so oder so mit ihm verbringen. Doch er hatte verstanden. Es wurde ein wunderschöner Abend. Sie redeten stundenlang, erkundeten ihre Seelen. Die Nacht wurde noch schöner.
„Zieh mich sorgsam aus, mein Liebster. Nein, nicht die Kleider. Lass das für später, wenn du mich als Deine Frau kennen gelernt hast und nicht als jemand der bloß durch dein kaltes Bett gleitet. Entblöße meine Seele, so dass ich verstehe dass du Liebe suchst und nicht geliehene Gefühle. Versuche mich kennen zu lernen. Nimm dir die Zeit und suche jenseits von schönen Beinen und schönen Brüsten. Ich bin nur eine Frau und will deine Aufmerksamkeit. Deine Wärme ! Deine Liebe!
Entblöße meine Ängste. Ich habe Angst vor der Vergangenheit und bin bereit, sie mit dir zu teilen. Ich habe Angst vor einer Zukunft, die ich noch viel lieber mit deiner Seele teilen möchte. Ich habe Angst, dass du genauso bist, wie andere vor dir. Verwunde mich nicht .Gib mir die Ruhe deines Morgens und die Sicherheit der Abende die ich an deiner Brust verbringe. Gib mir deine ehrlichen Worte. Gib mir die Zuversicht dass alles gut sein wird. Gib mir die Sonne im Herzen.
Entblöße das Schweigen. Bring mich dazu, dir alles zu erzählen. Deine Ratschläge zu lieben und mich in schweren Zeiten an deine Schultern zu lehnen. Mach aus mir die Frau mit Lebenslust, die ich mal war und immer sein wollte. Mach mich zu dem Menschen, mit dem du abends deine Sorgen, Ängste und Erfolge teilst. Mach den Menschen aus mir, der dir eines Tages sein Herz schenkt, Mit Schmetterlingen und verrückten Schlägen. Gib mir den Krach der morgendlichen Stunden, in denen wir Kissenschlachten machen. Und die Verrücktheit der Stunden nach Mitternacht. Und die Kraft, um satt an deinen Schultern zu lächeln Gib mir ein ehrliches “ich liebe dich”.
Entblöße mich der Ablehnungen. Bring mich so weit, nie mehr nein zu sagen. So weit, das ich meine Welt voll bunter Schmetterlinge für dich öffne. Sei der, mit dem ich Pläne schmiede und Träume lebe. Befreie mich vom Bedauern und von Reue. Befreie mich von Nächten ohne Schlaf und nicht getrockneten Tränen. Dann will ich dich lieben, wie nur ich das kann und meine Schmetterlinge werden dein Kissen sein. Gib mir einen Kuss, damit ich das Gute kennen lerne. Gib mir deine Ruhe und Schweigsamkeit, damit ich sie in ein Lächeln verwandle. Gib mir das Glück eines einfachen, aber schönen Lebens. Ich will kein Auto, kein Haus oder Reichtum. Gib mir Liebe! Und zieh mich sorgsam aus.
Zieh mich sorgsam aus. Zuerst die Seele, Liebster, dann die Kleider.. „
3 Tage später hatte er ihr auch eine Nachricht auf dem Tisch gelassen.
„Es gibt kein Vorher und kein Nachher. Es gibt keine Zeit. Es gibt nur dich und mich und das in Ewigkeit.
Der Kuss, den du mir heute zum Abschied gegeben. Der war in dem Moment, als ich ihn spürte, schon Vergangenheit. Und doch war er für mich die Allerschönste Gegenwart. Und wird für immer Zukunft bleiben.
Unsere Liebe ist Ewigkeit. Je nachdem, wo wir uns befinden, ist sie Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart.
Betrachtet vom Punkt X sehe ich den ersten Moment, in dem dein Augenlicht in meines tauchte und den Regenbogen der Gefühle entfachte. Von diesem Punkt aus kann ich all die schönen, verzauberten Momente nochmal erleben. Und wenn ich das öfter tun will, gehe ich nach jedem Betrachten noch ein Stück weiter weg vom Punkt und kann das Ganze dann von vorn erleben. Und das bis in alle Ewigkeit. Und so wird Punkt X immer wieder zur Gegenwart. Wenn ich zu weit weg bin von dem Punkt, dann wird er zur Zukunft und ich kann es kaum erwarten, deinen Kuss wieder zu spüren.
So wie ein Lichtstrahl durch das Ganze Universum schwebt, so ist jeder Moment unserer Liebe für immer unterwegs. Stell dir vor, du wärst an der Spitze dieses Lichtstrahls. Du könntest jederzeit zurück schauen, zu dem Ursprung deiner Reise. Unsere Liebe ist schneller unterwegs als dieser Lichtstrahl, sie hat keine Hindernisse zu überwinden und wird in aller Ewigkeit da sein. Auch dein letzter Kuss.
Du bist nicht Sehnsucht, nicht Verlangen. Du bist viel mehr als das. Du schaffst in mir Vertrauen und Licht für die Dunkelheit. Ich möchte jeden deiner Schmetterlinge mit Namen kennen, ihn umarmen. Wenn Morgen Gestern, Gestern Heute und Heute Morgen wird, dann will ich dich an meiner Seite und mit dir Eines sein.
Lass uns noch viele dieser Momente in dieses Album der Liebe und der Ewigkeit einfügen, so dass wir am Punkt X recht lange verweilen können um nicht dauernd nach kurzen Momenten wieder nach vorn zu rücken.
So wie die Welle der Zeit Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart in sich vereint, so wird auch unsere Liebe dies vereinen. Und ich bin immer da, am Punkt X …“