Auszug aus meinem Roman Mondblume
Sie kamen. Ich hörte sie. Ihre Schritte. Spürte ihre ungnädigen Augen auf mir ruhen. Sie fragen. Wie jeden Tag. Jede Stunde. Rissen mich nachts aus dem unruhigen Schlaf, der mir schon seit langen keinen Frieden zu spenden mehr vermochte. Ich zitterte. Nicht vor Kälte. Vor Angst. Angst vor ihnen. Angst vor dem Imperium. Angst, dass meine Angst mich dazu treiben würde, ihre Fragen zu beantworten. Die Tränen waren mir längst ausgegangen. Das Schreien hatte ich längst aufgegeben. Es war sinnlos. Alles sinnlos.
„Willst du unsere Fragen nun beantworten, oder sollen wir noch einmal von vorne beginnen?“, fragten meine Peiniger mit ihren kalten, sachlichen Stimmen.
Warum taten sie mir das an? War ich denn kein menschliches Wesen? Hatte ich keine Gnade verdient? Keine Ruhe und keinen Frieden? Die Panik schnitt mir die Luft ab. Ich hob zögernd den Blick. Sah in die Augen meiner einstigen Landsleute. Hinter ihnen standen zwei junge Soldaten an der Tür. Als ob ich jetzt noch fliehen könnte. Die Soldaten wichen fast schon schuldbewusst meinem Blick aus. Als ob mir irgendjemand jetzt noch helfen könnte.
„Antworte!“, verlangten meine Peiniger.
Ich schüttelte nur den Kopf und alles begann von neuen.
Sie kamen jeden Tag. Jede Nacht. Und plötzlich kamen sie nicht mehr. Gefühlte Jahre verstrichen, ohne dass ich mit einem menschlichen Lebewesen sprach. Das gleißend helle Licht brannte durchgehend. Stach in meine Augen. In unregelmäßigen Abständen wurde eine Luke geöffnet. Doch ich aß und trank kaum etwas. Mein Zeitgefühlt hatte ich endgültig verloren. War es Tag? Nacht? Tobte dieser Krieg noch, oder war er längst vorbei? Wie lange war ich schon hier? Wochen? Monate? Jahre? Habe ich je in Freiheit gelebt? Habe ich je gelebt?
Die Stille und Einsamkeit machte mich verrückt. Trieb mich in den Wahnsinn. Meine Albträume verfolgten mich selbst im wachen Zustand. Ach… als ob zwischen Wach und Schlaf noch ein Unterschied bestand! Ich umschlang meinen Oberkörper, wiegte mich hin und her und sang ein altes Schlaflied. Mein stetiges Zittern hörte nicht auf. Mein strähniges, ungewaschenes Haar fiel mir ins Gesicht. Ich raufte mir die Haare, kratzte mir die Oberarme auf, wollte den Schmerz spüren. Wollte spüren, dass ich noch am Leben war. Und jedes Mal traf mich diese Erkenntnis wie ein Messer in den Unterleib. Ich lebte noch, und das war das Schlimmste was mir passieren konnte. Ich begann mit meinen Halluzinationen zu sprechen. Ich musste reden, sonst würde ich völlig den Verstand verlieren. Also tadelte ich Leonie, lachte mit Sissi, sagte René, wie sehr ich ihn liebte. Das grausamste waren aber weder die Folter noch das schrecklich helle Licht, sondern dass ich immer und immer wieder am Rande der Lichtung stand. Ich konnte mich nicht bewegen und meine Hilfeschreie verklangen ungehört, während ich gezwungen war, zuzusehen, wie René verbrannte. Wie unser kleines Haus mit dem Stall und den Gemüsegarten in Flammen aufging. Die ungnädigen Flammen leckten und zuckten aus dem Küchenfester hervor. Ruß färbte die Mauern schwarz. Ziegel explodierten regelrecht. Das Dach sackte ein und das Feuer bäumte sich hoch, dem Himmel entgegen. Und unsinnigerweise schien die Sonne wie an einem frühen Frühlingstag und feine Schneeflocken tanzten aus dem wolkenlosen Himmel herab. Ich hörte nichts. Nichts als meine schrillen Rufe. Und plötzlich saß ich unter einer schattenspendenden Trauerweide. Eine leise melancholische Melodie die von der Mitte des Sees her zu kommen schien. Und ich saß nur da, der angefangene Brief an meine Schwester und einen Stift in der Hand. Ich wagte, tief durchzuatmen. Und musste husten. Dichter Qualm schlich zwischen den Bäumen des Waldes hindurch. Das Wasser des sonst friedlichen Waldsees glühte rot und brodelte. Betäubt beobachtete ich, wie mein Brief an Leonie von einem unsichtbaren Feuer verbrannte. Das dünne Papier färbte sich schwarz und zerbröselte zu Asche. Die Musik steigerte sich, wurde lauter und gereizter. Als die letzten Worte, Liebe Leonie, nur noch kalte Asche in meiner Hand waren, tobte das Feuer um mich herum. Die Äste der Trauerweide brannten, glichen einem Phönix der mit seinem flammenden Flügeln schlug, und ich saß einfach nur da und starrte in das Flammenmeer. Wie Schatten huschten sie durch mein Blickfeld. Ein Rebell, der auf einer Tribüne hingerichtet wird. Leonie, die das Essenstablett auf ihrem Kopf balanciert. René, wie er für seine Großmutter Holz hackt. Marco, streitend mit seinem Vater. Sissi, die im See schwamm. Luca, der mich aus seinen ernsten dunklen Augen anklagend ansah. Und die Soldaten. So viele Soldaten. Sie schossen. Sie töteten. Ich weinte.
„Das ist nicht real“, flüsterte ich heißer, kauerte mich zusammen und fuhr damit fort, meine mageren Arme zu zerkratzen. Hoffte, der Schmerz würde mich aufwecken. „Das ist alles nicht real!“
„Doch Sanja, das ist es.“
Und ich befand mich wieder in dem gleißend hellen Raum. Kauerte zitternd in einer Ecke, wie ein verängstigtes Tier, und starrte zu dem Mann empor. Er musterte mich völlig emotionslos und frage schließlich: „Gibst du auf? Willst du mit uns reden?“
Ich schüttelte kaum merklich den Kopf. Der Mann schnalzte resigniert mit der Zunge und ließ mich wieder allein in dieser leeren, stillen, gleißenden Hölle.
Von Marlene_von_Hagen
Am 14.03.2013 um 10:44 Uhr
Ich finde den Auszug deines Romanes wirklich sehr trefflich geschrieben! Dein Schreibstil vermittelt den Wahnsinn der Figur, an dem sie zu leiden beginnt. Die kurzen Sätze hetzen mich durch ihre Gedanken und zeigen mir in sprunghaften Beschreibungen wie es ihr geht. Sie erzählen alles was wichtig ist, in einem Tempo, dass zu dieser Szene nicht besser passen könnte.
Ist dir wirklich gut gelungen! Wäre interessant, wie es weiter geht!
Ich wünsche Dir noch viel Erfolg bei deinen Schreibtätigkeiten1 :)
Lg
Marlene_von_Hagen