ANNA & WOLF
Anna liegt gemütlich auf ihrem Bett und liest das Märchen vom Rotkäppchen. Sie sieht den Wolf vor sich, wie er den Kuchen auffrisst, den Wein austrinkt, die Großmutter verschlingt, dazu das Rotkäppchen, den Tisch und die Stühle, das ganze Haus – und am Ende sogar das Märchenbuch, in dem die Geschichte geschrieben steht.
Nun sitzt er dick und schwarz und vollgefressen neben Anna. Lang und spitz sind seine Zähne, er hat einen ganzen Rachen voll davon. Seine Augen flackern gelb wie eine Warnblinkanlage.
„Und jetzt?“, fragte Anna den Wolf.
„Jetzt fress ich dich!“, knurrte der Wolf.
„Das kannst du aber nicht“, widersprach Anna, „denn du gehörst doch in das Buch!“
„Das Buch ist jetzt in meinem Bauch“, antwortete der Wolf, „und weil ich nicht mehr in ihm drin bin, sondern draußen, kann ich dich fressen. Null Problem!“
Da nahm Anna ein Kochbuch und schlug die Seite mit dem Gänsebraten auf, zeigte dem Wolf das Foto von dem Gänsebraten und fragte: „Würde dir so was nicht schmecken?“
„Klar!“, sagte der Wolf, „das sieht lecker aus! Genau die richtige Vorspeise.“
„Na, dann guten Appetit!“, sagte Anna, und der Wolf stürzte sich auf das Gänsebraten-Foto. Da klappte Anna das Kochbuch schnell zu, und der Wolf war drin gefangen.
„Mach sofort das Buch auf! Lass mich hier raus!“, heulte der Wolf.
Aber Anna konnte ihn nicht mehr hören, denn seine Worte verwandelten sich in schwarze Druckbuchstaben und blieben in den Seiten hängen.
Zu Weihnachten wollte die Mama einen Gänsebraten machen und schaute nach einem guten Rezept. Da sah sie den Wolf im Kochbuch lauern.
„Lass mich hier raus!“ stand in fetter schwarzer Schrift neben ihm geschrieben.
Was für ein Schreck! Blitzschnell klappte die Mama das Buch wieder zu und rief entsetzt: „Anna, Anna! Stell dir vor, in unserem Kochbuch sitzt ein Wolf gefangen! Und der will ausbrechen!“
Anna kam aus dem Kinderzimmer herbeigerannt. „Den kenn ich“, sagte sie, „der ist sehr gefährlich. Weil der uns nämlich fressen will! Am besten wäre es, er bliebe für immer da drin.“
„Bloß gibt's dann keinen Gänsebraten zu Weihnachten“, wandte die Mutter ein. „Ich muss doch das Rezept lesen! Wenn aber so ein Wolf neben mir sitzt, da kann ich keine Rezepte lesen. Und schon gar nicht kochen!“
Da standen sie nun. Ein Wolf im Kochbuch und kein Gänsebraten! Was tun?„Ich hab's!“, sagte die Mutter. „Wir stellen ihm eine Falle!“
Gesagt, getan. Sie packten ihre Koffer, vergaßen auch nicht, das Kochbuch mitzunehmen, und nahmen das nächste Flugzeug nach Mallorca. Dort gingen sie eine Weile spazieren und fanden bald eine Weide mit exakt sieben Geißlein. Da nahm die Mutter das Kochbuch aus ihrer Tasche, öffnete es, und der Wolf schaute grimmig heraus. Wie er aber die sieben Geißlein erblickte, da lief ihm das Wasser im Maul zusammen. Er fletschte die Zähne, legte sich lauernd auf den Bauch, setzte zum Sprung an und zack! landete mitten auf der Weide. Mit einem Satz!
Die Geißlein hüpften erschreckt davon und der Wolf jagte ihnen nach, denn er hatte großen Hunger. Doch bald kam er außer Atem. Heiß war es! Außerdem verlief die Sache anders, als er es gewohnt war. In dem Märchen, in dem er vorkam, musste er nicht viel rennen, weil die Geißlein in einem Haus waren statt auf einer Wiese. Außerdem bekam er sie da auch alle, bis auf das eine in der Uhr. Aber hier! Es war eine Zumutung.
So legte er sich erst mal unter einen Baum zum Verschnaufen. Und schlief ein. Da klappte die Mutter das Kochbuch zu, und die beiden machten sich auf den Heimweg.
„Wieso sind wir eigentlich dazu nach Mallorca gekommen?“, fragte Anna die Mutter.
„Weil die Geißlein hier das Märchen nicht kennen“, antwortete die Mutter. „Und deswegen kann ihnen der Wolf nichts Böses tun.“
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Clemens West