Die Kirche war brechend voll.
In der Lichtenhäger Dorfkirche gaben die Don Kosaken ein Herbstkonzert. Viele Leute, unter ihnen ein großer Teil Russen, waren gekommen, um den stimmgewaltigen Kosaken zu lauschen. Es erklangen melancholische Klänge, u.a. das bekannte 'Abendglocken' (Wetscherni Swon). Immer, wenn der Refrain ....swon-swon-swon...ertönte, bekam ich Gänsehaut. Später kam das Akkordeon zu heiteren Klängen zum Einsatz. Beim frenetischen Klatschen nach Konzertende, ertappte ich mich, dass ich Tränen der Rührung in den Augen hatte. Es waren die Tonfolgen, die ein Gefühl von Sehnsucht, Melancholie und leiser Nachdenklichkeit erzeugen.
Auf dem Heimweg fragte ich mich, was es genau ist, das mich während und nach einem Konzert in diese melancholische Stimmung bringt.
Aufgewachsen in Nachbarschaft einer Russengarnision sind mir diese russischen Gesänge nicht fremd. Als Kinder standen wir hinter dem Zaun und hörten den Liedern zu, die die Soldaten sangen. Wenn wir Glück hatten, gaben sie uns etwas 'Mischka-Konfekt', das nach ihrem Tabak schmeckte. Als Kind konnte ich diese Sehnsucht nicht zuordnen. Aber schon damals hatte ich Tränen in den Augen und mein Magen verkrampfte regelmäßig. Der Gesang der Einheimischen überall auf der Welt rührt mich und ich höre gern zu, wenn die Leute in fremden Ländern ihre Lieder singen.
Die neapolitanischen Gesänge haben mir es b esonders angetan.
Ich erinnere mich an einen der ersten Urlaube auf der Insel Ischia. Den Sommer über ging es mir nicht gut, da ich mich von einer Bauchoperation schlecht erholte. Südliche Septembersonne sollte der Genesung einen Schub geben. Eine Freundin wollte mich begleiten, sagte aber ganz kurzfristig ab.
Ich fuhr allein auf die kleine Insel, wohnte in einem schönen Hotel und war bald der Liebling der Kellner. Immer wieder ertappte ich sie,dass sie mir zusätzliche Leckereien aus der Küche brachten. Auf meinem Zimmer stand frisches Obst und in der Wasserflasche fand ich selbstgekelterten Wein, erriet aber nie den Spender. Es war eine lockere, fröhliche Atmosphäre.
Ich war viel unterwegs, allein und auch mit einem Pärchen aus dem Hotel, das ich an der Hotelbar kennengelernt hatte.
Eines Tages sprach uns ein Kellner an, ob wir nicht an einem urigen Kaninchenessen auf dem Weingut seines Vaters in den Bergen teilnehmen wollten.
Wir wollten!
Die erste Wegstrecke fuhren wir mit dem Linienbus, der auf dreiviertel der Strecke liegenblieb. "Alle aussteigen!", lautete das Kommando des Busfahrers und ich schlug den Beiden vor, die restliche Strecke zu laufen. Sie murrten. Der Tag war heiß, einer jener Septembertage, die an den Sommer erinnern, aber schon die Farben des Herbstes im Schlepptau haben. Es ging bergauf und Margitta, von Hause aus Friseurin mit eigenen Salon, nicht so ganz schlank, begann schnell zu keuchen. Ihr hübsches Gesicht färbte sich rot und sie wurde zunehmend einsilbig, auch deshalb, weil die Luft zum Atmen knapp wurde. Andreas, ihr Partner, selbständiger Kneiper, hielt länger durch.
In dem Dorf Serrara angekommen, völlig verschwitzt und abgekämpft, kam das nächste Problem. Wir wussten nicht, wo das Weingut genau lag und unsere Italienischkenntnisse waren mehr als mangelhaft.
Die Beiden meinten zu mir, dass ich das rausfinden soll, da ich darauf bestanden hätte, zu laufen. Sie fielen auf eine Bank und rührten sich nicht nicht mehr vom Fleck.
Nach einigem hin und her hatte ich den Weg erkundigt und führte uns auf das Weingut.
Ein fantastischer Nachmittag lag vor uns, der mit einer köstlichen Vorspeise begann, zu dem Kaninchen als Hauptgericht führte und mit einem Sorbet als Nachtisch abschloss. Dazwischen probierten wir die verschiedensten Sorten Wein und ließen uns den Weinberg mit der Kelterei im Berginneren zeigen. Außer uns dreien waren noch sechs andere Gäste da und wir waren bald eine große 'Familie'. Später sang der Vater unseres Kellners Heimatlieder, die sogenannten neapolitanischen Gesänge. Ich war sowieso schon in guter Stimmung, aber das war der Höhepunkt und ich bat ihn immer wieder um eine Zugabe, was den anderen inzwischen zuviel wurde. Die Lieder machten mich melancholisch, aber rührten mich aber eigenarigerweise nicht zu Tränen. Seltsam.
"Kannst du jetzt mal ruhig sein?", zischte Margitta und zog ihre perfekt gezupften Augenbrauen in die Höhe. Andreas lächelte nur. Er war die ganze Zeit damit beschäftigt, die Nichte des Kellners mit seinen Blicken zu verfolgen. Das Mädchen war um die sechzehn Jahre alt und bemerkte die Blicke gar nicht. Andreas ließ sich nicht entmutigen und verfolgte sie weiterhin mit seinen hungrigen Augen. Ohne Erfolg.
Als es leicht dunkel wurde und alle zum Aufbruch drängten, schlug er vor, dass wir zurücklaufen könnten, da es nun bergab ging. Ich hatte nichts dagegen. Nachdem ich den Vater des Kellners erfolgreich abgewehrt hatte und mein Gesicht von seinen nassen Küssen trockengewischt hatte, murmelte ich in Richtung von Andreas und Margitta:
"Ihr wisst aber schon, dass wir ziemlich betrunken sind und der Weg sehr sandig ist und steil bergab führt?"
Ich war den Weg schon gegangen und wusste deshalb, dass er glatt und steil war und man beim Fallen in den Sand keinen Halt fand. Am Wegrand standen nur Büsche, deren Zweige abbrachen, wenn man sich daran festhielt.
"Was sagst du da?", fragte Andreas nach dem Abstellen seines Weinglases. Ich wiederholte meinen Einwand. "Was soll denn passieren? Es geht bergab, verstehst du, bergab....", lallte Andreas lachend und drehte sich zu Margitta um.
"Genau! Es geht bergab!", qiekte sie los und hielt sich den Bauch vor Lachen. Ich stimmte in ihr Lachen ein.
Relativ schnell verloren wir uns aus den Augen, weil Margitta ständig hinfiel und sich nicht helfen lassen wollte. "Lasst mich in Ruhe! Ich kann alleine laufen, kümmert euch um euch selber!", schrie sie uns mehrmals an. Vom Lachen war sie inzwischen weit entfernt. Andreas bot ihr weiterhin sein Hilfe an und ließ sich beschimpfen.
Nach ihrem dritten Ausbruch bin ich einfach weitergelaufen. Der Weg war schwach ausgeleuchtet. Mehrmals rutschte ich weg, konnte mich aber immer wieder abfangen. Völlig nassgeschwitzt wartete ich im Hotel auf die Beiden. Andreas kam als erster, allein. Auch er hatte schließlich vor den Ausbrüchen Margittas kapituliert. Nach einer Stunde und in völliger Dunkelheit tauchte sie auf. Knie blutig, Kleid zerrissen. Sie lief an uns vorbei als wären wir Fremde.
"Was war das denn?", fragte ich Andreas. Er drehte sich um, ohne zu antworten und lief Margitta hinterher. Inzwischen waren wir alle wieder nüchtern.
Am nächsten Tag reiste Andreas unerwartet ab.
"Endlich ist er weg! Wär sowieso nichts geworden mit ihm. Immerzu mäkelt er an mir herum. Gestern hat er mir nicht einmal beim Aufstehen geholfen, der blöde Kopp!", hörte ich Margitta sagen. Ihre Stimme zitterte. Meine zaghaften Bemerkungen, dass sie doch gar keine Hilfe annehmen wollte, wischte sie schnell vom Tisch.
"Das verstehst du nicht!"
Sie hatte vollkommen Recht! Ich verstand es tatsächlich nicht. Unbewusst vermieden wir es von nun an, allein zu sein.
Am übernächsten Tag fuhr ich sehr zeitig mit einem Gemeinschaftstaxi zurück.
Es war ein kleiner Bus, der überall auf der Insel die Leute einsammelte. Die meisten dösten nach dem Einsteigen vor sich hin. Der Fahrer hatte eine CD mit neapolitanischer Musik eingelegt, was mich total entzückte, die anderen Fahrgäste zu missfallenden Äußerungen veranlasste. Den Fahrer störte das nicht.
Als wir am Hafen von Ischia Porto ankamen, meinte der Fahrer, dass man die CD bei ihm kaufen könne.
"Kannst du dir vorstellen, dass sich jemand diese Musik kauft und freiwillig anhört?", fragte eine Frau ihren Mann hinter mir.
"Nee, oder derjenige muss völlig bekloppt sein!", antwortete der Mann.
Ich war schon halb auf dem Weg zum Fahrer, das Geld in der Hand, traute mich dann doch nicht, die CD zu kaufen. Schon auf der Fähre nach Neapel ärgerte ich mich, dass ich mich dem Gruppenzwang unterworfen hatte.
Ein Jahr später kaufte ich mir zwei CDs mit neapolitanischen Gesängen, die bis heute ungehört im Regal liegen.