Die Jagd
Es wurde ein harter Winter. Seit dem 26. Oktober schneite es jeden Tag. Tom hatte sich schnell wieder erholt. Er sollte, nach Anweisung des Arztes, eine Woche lang das Bett hüten.
Aber schon nach drei Tagen stand er jeden Morgen auf und schaute aus dem Fenster.
Aus seiner kleinen Kammer im hinteren Teil des Hauses konnte er den verschneiten Weg sehen, den er jeden Tag zur Schule ging. Verträumt setzte er die Ellenbogen auf die Fensterbank und stützte seinen Kopf in die Hände.
Wyatt Earp hatte ihn gerettet. Das war für Tom das größte Abenteuer, was er je erlebt hatte. Das war noch besser als der Kampf im O.K. Corral. Hier war er im Mittelpunkt des Geschehens.
Die Tage krochen im Schneckentempo dahin.
Besuch bekam er keinen. Das Wetter war zu unbeständig, niemand schickte sein Kind bis zur Wolf Ranch raus. Am sechsten Tag kam Doktor Summer noch einmal zur Visite. Er horchte Toms Lungen ab, prüfte seinen Puls und maß Fieber.
Er war nur zehn Minuten bei seinem jungen Patienten, dann stand er wieder in der Stube und sprach mit Thomas und Jenny.
Tom konnte einen Freudenruf seiner Mutter hören und schon im nächsten Augenblick kam sie an sein Bett gestürmt. Mit ihrer zarten, weichen Hand strich sie durch Toms Haar. Dann beugte sie sich über ihn und flüsterte.
„ Du bist wieder gesund Tom. Der Doc. sagte dass alles in Ordnung sei. Kein Fieber, und auch keine Lungenendzündung. Morgen darfst du wieder aufstehen.“
„ Prima Mam. Dann darf ich ja auch wieder zur Schule!“ Tom freute sich, endlich wieder bis nach Tombstone zu kommen und das Marshalloffice zu beobachten, aber daraus wurde nichts.
Sein Vater brachte ihn jeden Morgen mit dem Wagen zum Unterricht, und Mister Benito brachte ihn nachmittags wieder bis zur Ranch zurück. Benito war schlank und groß. Sein langes tief schwarzes Haar hatte er zu einem Zopf gebunden. Seine Urgroßeltern waren Indianischer Abstammung. Der junge Mexikaner besuchte jeden Tag seinen Onkel, der weit unten am Rio Gila nach Gold suchte. Er hoffte auch etwas von dem glänzenden Edelmetall zu finden, war aber immer noch erfolglos geblieben. Unterwegs erzählte Benito jedes Mal, wie hart doch seine Arbeit am Fluss sei.
“ Goldwaschen ist sehr anstrengend, aber auch unglaublich interessant.“ Sagte er bei den Fahrten immer, und erklärte dann in allen Einzelheiten wie man das Gold aus dem Wasser siebt. Für Tom war das alles langweilig. Er liebte das wilde Leben. Die Arbeit eines Sheriffs und das zureiten der Pferde auf Vaters Ranch, das waren Dinge die ihn faszinierten. Er brauchte Abenteuer.
Als Tom Anfang März mal wieder nach einer langweiligen Fahrt mit Benito zu Hause ankam, saß sein Vater auf einem Stuhl und polierte sein Winchester Gewehr. Er war sehr gründlich in seiner Arbeit, denn er hatte gelernt wie wichtig ein Gewehr hier draußen war. Trotz der scharfen Gesetze die hier herrschten, gab es noch zu viele Banditen und Revolverhelden die durch das weite Land streunten.
Ein Sternträger konnte nicht immer genau dort sein, wo ein Verbrechen geschah. Oft genug waren sie mit den Überfällen und den Schießereien völlig überlastet. Was nutzten da Gesetze, wenn weit unten im Süden nur eine Handvoll brauchbarer Gesetzeshüter den fast aussichtslosen Kampf gegen die Outlaws führten.
Die kleinen Farmer mussten lernen sich selber zu schützen. Pferdediebe wurden am nächsten Ast gehängt, wenn man sie erwischte. Kaum ein Rancher brachte die Diebe zur Stadt um sie dem Gesetz zu übergeben. Hier draußen regierte noch die Selbstjustiz.
Thomas hatte noch nie einem Menschen etwas angetan. Er konnte es sich nicht vorstellen auf jemanden zu schießen. Sein Gewehr diente mehr der Abschreckung und der Jagt.
Während er mit dem Öligen Lappen den Schaft der Winchester einrieb, sagte er ohne aufzuschauen.
„ Setz dich Tom. Ich muss mit dir reden.“
Tom schluckte. Er überlegte ob er etwas angestellt hatte, aber ihm fiel nichts ein. Zögerlich nahm Tom die Stuhllehne in die Hand, und setzte sich rücklings auf den Stuhl. Er beobachtete Thomas Gesicht, konnte aber nichts darin erkennen. Es dauerte eine Weile bis der Vater das Gewehr auf den Tisch legte und seinen Sohn mit scharfem Blick ansah. Tom wurde immer kleiner auf seinem Stuhl. Er zog den Kopf tief in Schultern, hielt aber dem harten Blick des Vaters stand.
Endlich öffneten sich die Lippen, und Thomas hatte ein kleines fast übersehbares lächeln in den Augenwinkeln als er sprach.
„ Junge, du bist schon fast zehn Jahre alt und ein tüchtiger Bursche.
Ich bin stolz auf dich. Du kannst schon mit Pferden umgehen, die Ranch versorgen und bist deiner Mutter eine große Hilfe in der Küche. Aber eins musst du noch lernen, und das ist wohl das wichtigste was du hier im Leben brauchst.
“ Sein Blick fiel auf das Gewehr auf dem Tisch. Er hob es an, und reichte es seinem Sohn. Tom hatte das Gefühl, das seine Wangen rot anliefen. Wie heiße Lava floss sein Blut durch die Adern und ließ das Herz bis zum Hals spürbar schlagen, als er die Hände um den kühlen, frisch eingeölten Lauf des Gewehres legte. Vater erhob sich und sprach weiter.
„ Ich habe schon zwei Pferde gesattelt. Wir beide gehen auf die Jagt. Der Winter war hart, aber nun taut der Schnee und ich habe schon die ersten Hasenspuren entdeckt. Unsere Vorräte sind fast verbraucht. Wir brauchen mal wieder etwas Kräftiges zu Essen. Ganz besonders deine Mutter.“
Lächelnd zog Thomas seine Frau an sich und legte den Arm um ihre Hüfte. Tom sah Beide fragend an, bis Jenny sich zu ihm niederbeugte und freudestrahlend sagte.
“ Du bekommst ein Geschwisterchen! Ich war gestern beim Doc, und er hat es bestätigt. Im September soll es zur Welt kommen.“
Sprachlos saß Tom auf seinem Stuhl. Das war nun doch alles etwas zu viel. Vater nahm ihn mit zur Jagt, und Mutter erwartete ein Baby.
Während Tom noch versuchte seine Gedanken zu ordnen, stand sein Vater schon in der Tür und sah ihn fragend an.
„ Na, was ist nun. Kommst du mit?“
„ Natürlich. Ich werde uns für heute Abend ein Festmahl schießen.“
„ Nicht so voreilig Junge. Es ist gar nicht so leicht wie du denkst. Aber ich werde dir den Umgang mit dem Gewehr schon beibringen.“
Vater und Sohn gingen in den Stall und holten die Pferde heraus. Jenny stand vor dem Haus und sah die Beiden durch das offene Scheunentor als Thomas mit seinem Mustang am Zügel an ihr vorbei ging, hielt Jenny ihn am Arm fest. Ihre großen leuchtenden Augen blitzten ihn an. Sie sprach kein Wort, und doch wusste Thomas was sie sagen wollte. Er legte seine schweren Hände sanft auf ihre Schultern.
Seine Stimme war weich und beruhigend, aber ein fester Männlicher Unterton schwang mit als er sagte.
„ Mach dir keine Sorgen Jenny. Er ist jetzt im richtigen Alter. Es ist meine Pflicht als Vater ihm mit der Waffe vertraut zu machen. So verlangt es das raue Land hier. Außerdem gehen wir ja nur auf Hasenjagd. Du musst dich schon daran gewöhnen, dein Sohn ist nun fast ein Mann.“
Jenny seufzte. Sie wusste ja wie Recht Thomas hatte, aber ihr gefiel es nicht, dass Tom jetzt schon eine Waffe in die Hand bekam.
Als sie aufschaute, sah sie die beiden Reiter nebeneinander durch das Ranchtor reiten.
Aus den Augenwinkeln beobachtete Tom seinen Vater, der aufrecht im Sattel saß. Seine linke Hand hielt den Zügel, während die Rechte lässig herunter hing.
Erst jetzt fiel ihm auf, wie groß und stark seine Vater eigentlich war. Er war für ihn immer nur der Farmer, und Pferdezüchter. Aber nun ritten sie nebeneinander zur Jagd. Das Gewehr war am Sattel gebunden, und Thomas trug einen Frontierrevolver im Holster. Tom war mächtig stolz auf seinem Vater, und mit jeder Meile die sie nebeneinander ritten wuchs dieser Stolz weiter an. Wie groß und stark er doch war. Tom hatte ihn noch nie mit dem Revolvergurt gesehen. Er wusste bisher nicht, dass sein Pa so etwas besaß. Die letzten drei Meilen dachte Tom nur darüber nach,
„ob mein Dad auch damit umgehen kann. Wie gut kann er damit schießen? Ob er genau so schnell ist wie Doc. Holliday?“
Thomas hielt sein Pferd an und stieg aus dem Sattel.
„ Ab hier müssen wir zu Fuß weiter. Hasen und Wildschweine werden wir nicht hier auf dem Pfad finden, sondern mehr dort drüben im Dickicht.“
Sie banden ihre Tiere an einem Baum fest. Tom folgte seinem Vater Quer durch den Wald. Immer wieder blickte er um sich, aber es gab nur Bäume zu sehen.
„ Pa, wie findest du wieder zurück? Wir laufen doch schon eine halbe Stunde umher.“
Thomas drehte sich lächelnd um. Er kniete vor Tom nieder um auf seiner Augenhöhe zu sein, dann deutete sein Finger auf einen der vielen Bäume.
„ Siehst du den dicken Stamm dort?“ Tom nickte.
„ Er sieht aus wie eine dicke Hausmagd, und die beiden Äste rechts und links sind ihre Arme. Hier sieht jeder Baum anders aus. Du musst dir nur immer wieder markante Stellen merken. Etwa fünfzehn Yards von hier war eine Tanne deren Zweig bis zum Boden hing. Außerdem halten wir uns schon die ganze Zeit Westwärts.“
Tom dachte an seinen schweren Weg durch den Schnee. Die Richtung bestimmen, das konnte er schon ganz gut. Der Tipp mit den auffallenden Bäumen war ihm neu. Nach etwa zehn Yards blieb er stehen und hielt seinen Vater am Ärmel fest.
„ Da, sieh doch Pa! Die verkrüppelte kleine Tanne dort. Ich finde die sieht aus wie Mister Linol der Bestatter aus Tombstone.“
„ Du hast Recht. Er ist genau so ein Gerippe.“ Beide fingen an zu lachen.
„ Wir sollten sie fällen und Mister Linol zum Geburtstag schenken.“ Sagte Tom im Lachen.
Sie wollten gerade weiter gehen, als Thomas stehen blieb und seinem Sohn zuflüsterte.
„ Da vorne sitzt ein fetter Hase. Nimm das Gewehr, aber leise. Ganz langsam und vorsichtig spannen.“
Erstaunt schaute Tom seinen Vater an.
„ Was denn, ich? Pa, ich habe noch nie mit dem Gewehr geschossen.“
„ Dann wird es Zeit, dass du es jetzt lernst. Du bist alt genug. So, und nun leg die Büchse an. Ganz fest an deine Schulter. Merke dir: Kimme und Korn immer nach vorn.“
Tom hatte die Winchester schon ein paar Mal in den Händen gehalten. Aber so schwer wie jetzt, kam sie ihm nie vor. Ein leichtes zittern ging durch seine rechte Hand. Es war nicht nur das Gewicht des Laufes, sondern auch die Aufregung. Der Vater stand hinter ihm, sah wie Toms Hand zitterte und packte ebenfalls am Lauf. Über der Schulter des Jungen versuchte er den Hasen anzupeilen.
„ Drück ab, Junge!“
Der kleine Zeigefinger krümmte sich und ein Schuss donnerte los. Tom wurde regelrecht nach hinten gestoßen, in die Arme seines Vaters, der ihn auffing.
„ Du hast ihn nicht erwischt!“ sagte Thomas und wies mit dem Finger auf den Hasen, der in panischer Angst das Weite suchte.
„ Schade. Dabei hatte ich mich schon auf einen Hasenbraten gefreut.“
Als er seinem Vater das schwere Gewehr reichte, fuhr ein stechender Schmerz durch seine Schulter. Er rieb sich mit der linken Hand die schmerzende Stelle.
Thomas achtete gar nicht auf ihn. Sein Blick ging starr in die andere Richtung.
Er legte den Zeigefinger auf seine Lippen und flüsterte,
„ Das glaub ich jetzt nicht. Da vorne sitzt noch einer.“
Diesmal legte er selber an und sein Schuss war ein Treffer.
Tom sah ihn mit Bewunderung an. So sicher und ruhig muss man eine Waffe halten um Erfolg zu haben. Er selber war viel zu nervös gewesen und hatte den Lauf verwackelt.
„Beim nächsten Mal wird es besser laufen, “ dachte er sich.
„ Sieh her Junior. So geht das.“ Er hielt den tot geschossenen Hasen an den Ohren fest und schwenkte ihn vor Toms Augen hin und her.
„ Das werden wir demnächst noch mal versuchen. Aber jetzt lass uns nach Hause reiten. Wir wollen Mutter doch nicht so lange warten lassen. Der Rammler gehört schnellstens in den Ofen.“
Tom steckte seine Hand in die Hosentasche. So fiel es nicht auf, wie sehr der Arm schmerzte. Er wollte seinen Vater nicht auch noch damit enttäuschen. Ihm ärgerte es sehr, dass er daneben geschossen hatte. Wie lange musste man wohl üben um so gut schießen zu können wie Vater oder Marshall Earp.
Die ersten zwei Meilen auf dem Heimritt trabten die Beiden Schweigsam nebeneinander.
Tom unterbrach diese Stille, indem er neugierig fragte.
„ Wann hat Großvater dir das Schießen beigebracht?“
Thomas atmete tief ein. Die Erinnerung an seine Kindheit schmerzte ihm immer. Er konnte seine Heimat nun mal nicht vergessen. Tom sah wie ein Schatten über sein Gesicht flog als er antwortete.
„ Du weißt doch, dass meine Familie aus Deutschland stammt. Ich bin in der Stadt Weimar geboren und aufgewachsen. Wir brauchten dort keine Waffen. Weimar ist meine Heimat, dort geht es noch Zivilisiert zu. Da gibt es keine abtrünnigen Indianer, betrunkene Cowboys und schießwütige Outlaws. In Deutschland ist die Welt noch in Ordnung.“
Tom musste erst mal über die Worte seines Vaters nachdenken. Stumm ritt er die nächste halbe Stunde neben dem bunt gescheckten Mustang. Er spürte das Heimweh in jedem Wort das sein Vater sprach. Nur verstehen konnte er es nicht. Für Tom war Amerika die Heimat. Er liebte Arizona, und sein Traum war es einmal Cowboy oder Marshall zu werden. Er hatte sogar schon darüber nachgedacht, ob er der erste Marshall wäre, mit einer eigenen Ranch. Oft saß Tom in der Schule oder beim Abendbrot zu Hause am Tisch, und Träumte davon Erwachsen zu sein. In seinen Tagträumen war er natürlich immer der Held. Er rettete Menschen aus brennenden Häusern, oder besiegte Billy the Kid im Duell mitten auf der Mainstreet in Tombstone.
„ Warum hat Großvater dieses Weimar verlassen, und ist hier her Ausgewandert?“ fragte Tom schließlich.
„ Mein Vater Eduart Thomas Wolf war Pferdeknecht. Er arbeitete für einen reichen, sehr wohlhabenden Herzog. Doch dieser kam bei einem Ausritt ums Leben. Sein Neffe übernahm das Gestüt, und seine erste Handlung war alle Bedienstete über dreißig zu entlassen.
Eduart war damals ein und dreißig Jahre alt, und musste deshalb gehen.
Mein Vater fand keine neue Arbeit. Die Zeiten waren nun mal schlecht. Mit Aushilfsarbeiten beim Müller und im Sägewerk hielten wir uns über Wasser. Bis meine Mutter dann so schwer an der Lunge erkrankte. Der Doktor riet uns zur Ausreise nach Amerika. Die trockene heiße Luft im Westen würde ihrer Lunge gut tun.
Kurz darauf packten wir unser weniges Hab und Gut, verkauften das kleine Haus und siedelten hier her rüber.“
„ Das hast du mir noch nie erzählt, Pa. Die Schifffahrt war doch bestimmt aufregend.“
Thomas bekam einen bitteren Geschmack im Mund als er an die Überseereise dachte.
Es war für ihn bisher das schlimmste Erlebnis. Der Abschied von seinen Freunden. Tage und Nächte auf diesem schaukelndem Schiff. Zusammen mit fremden Leuten in einer stinkenden Kammer auf dem Boden schlafen. Mutter hustete viel, so dass sich die anderen beschwerten.
Am meisten regte sich der Dicke auf. Er sagte er könne bei diesem Gehuste nicht schlafen, dabei hatte er jeden Abend wie ein Bär geschnarcht.
Aber das alles wollte er seinem Sohn nicht erzählen. Er konnte es nicht. Die Worte würden nur im Halse stecken bleiben, und das Schlimmste wären dann noch Tränen vor seinem eigenen Sohn, der doch gerade zum Mann heran wuchs.
Thomas schluckte die schmerzliche Erinnerung runter. Er zog seinen Hut tiefer ins Gesicht und sagte geradeaus schauend.
„ Die ganze Reise war ein Abenteuer.“
Bis zur Ranch herrschte wieder Stille zwischen den Beiden. Jeder war in seinen Gedanken versunken. Thomas in Weimar und Tom in Tombstone.
„ Bring die Pferde in den Stall, und versorge sie.“
Thomas hatte wieder seinen alten hart klingenden Befehlston in der Stimme.
Die Väterliche Unterhaltung beim Ritt zur Jagt war etwas ganz neues für Tom. Noch nie zuvor hatte er Vater so reden gehört.
Der Überfall
Beim Striegeln der Pferde fiel ihm auch auf, dass er eigentlich sehr wenig über seine Vorfahren wusste. Großvater erzählte viele Märchen als Tom noch klein war.
Immer bevor er mit dem Erzählen begann, sagte er:“ Die Geschichte die ich dir nun erzähle, wurde von Jakob und Wilhelm Grimm aufgeschrieben.
Zwei gelehrte Brüder aus Deutschland.“
Tom kannte die Beiden nicht. Es war ihm auch völlig egal von wem die schönen und Phantasievollen Märchen stammten. Als er nun aber darüber Nachdachte, verstand er plötzlich was sein Großvater damit bezweckte. Er wollte dass sein Enkel etwas über seine Heimat erfährt. Deshalb sprach er auch nur in Deutsch mit ihm. Aber wie er in Europa lebte, und was für eine schwere Zeit er dort gehabt hatte, drüber verlor er nie ein Wort.
„Vielleicht war ich ihm ja noch zu klein.“ Dachte Tom. „ Bestimmt wird Vater mir alles erzählen wenn wir noch mal zur Jagd aufbrechen.“ Er wollte sich gerade umdrehen um den Eimer zu holen, als ihn eine Hand von hinten packte und sich fest auf seinen Mund presste.
Erschrocken ließ Tom die Bürste fallen. Er wollte sich wehren, aber mit jeder Bewegung zog sich der Griff fester zu.
Eine leise, raue Stimme flüsterte ihm ins Ohr.
„ Ich lass dich jetzt los. Wenn du schreist bekommst du das hier zu spüren. Verstanden?“
Der Fremde stand hinter ihm. Die kräftige Hand, die ihm fast den Atem nahm, lockerte sich. Der Eindringling hielt ihm ein Messer vors Gesicht. Die blanke Metallklinge glänzte vor seinen Augen. Tom wusste, dass er keine Chance gegen diesen Mann hatte. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, aber er blieb ganz ruhig stehen, wenn auch seine Knie weich wie Butter wurden.
„ So ist brav, Junge.“ Kam es frostig aus dem Mund des Fremden. Langsam drehte Tom sich um, und sah in ein Gesicht, das ihn erschrecken ließ.
Eine dicke rote Narbe zog sich vom linken Jochbein bis zum Mundwinkel. Die Augen standen viel zu weit auseinander und schimmerten gelblich. Seine kurze Nase zog die Oberlippe nach oben, so dass die vergilbten schief stehenden Vorderzähne zum Vorschein kamen.
Ungepflegt und schmutzig war das lichte blonde Haar und seine Kleidung hing zerrissen an ihm herunter.
Tom hatte schon viele Outlaws gesehen, aber dieser hier war in seiner Aufmachen kaum an Hässlichkeit zu übertrumpfen.
Nervös sah sich der Fremde im Stall um, dann fragte er.
„ Wie viele Cowboys arbeiten hier?“
Tom zögerte mit der Antwort. Fieberhaft überlegte er was er tun könnte. Der Mann war viel zu groß und kräftig um ihn im Kampf zu besiegen. Wegrennen half auch nicht viel, da das menschliche Monster vor dem Stalltor stand.
Plötzlich griff die Hand des Fremden nach vorn, und packte Tom am Kragen. Er zog ihn auf sich zu und hob ihn fast fünf Zentimeter hoch, so dass Tom seine Füße über dem Boden schwebten.
„ Ich hab dich was gefragt. Wie viele Leute befindet sich hier auf der Ranch?“
„ Meine Eltern und sechs Cowboys. Und zum Abendbrot haben wir Marshall Earp eingeladen.“ Log Tom.
Er packte nun mit beiden Händen am Hals des Jungen zu. Die Füße immer noch in der Luft, wehrte Tom sich gegen den Würger, aber er hatte keine Chance. Er spürte wie ihm schwarz vor Augen wurde. Nach Luft rangelnd, sagte er schließlich die Wahrheit.
„ Nur meine Eltern sind da.“
Mit einer Wucht wurde Tom gegen die Bretterwand geschleudert. Die Luftröhre schien ihm immer noch wie zugeschnürt, nur langsam kam wieder etwas Sauerstoff in seine Lungen.
Er wollte gerade aufstehen, als er in der zweiten Box ein Stiefelpaar entdeckte.
„ Noch einer,“ dachte er, und schon kam eine schmerzverzerrte Stimme aus der Ecke.
„ Ferry, ich brauche einen Arzt. Es tut scheiße weh. Ich verblute oder bekomme eine Blutvergiftung.“
„ Halt dein Maul. Du siehst doch dass ich mich schon um ein Versteck kümmere. Los Junge. Wir Beide gehen jetzt ins Haus. Du wirst mich deinen Eltern vorstellen.“
Wieder packte er Tom am Kragen und zerrte ihn aus dem Stall heraus. Sie überquerten den Vorplatz, dann zerrte Ferry den Jungen die Stufen zur Veranda hoch. Gerade wollte Tom rufen, seinen Pa warnen, als dieser aus der Haustüre trat.
Wie gebannt blieb er dort stehen. Sein erster Gedanke galt dem Revolver. Den hatte er aber schon abgelegt. Er hing am Huthalter neben der Haustür. Ferry hielt Tom wieder das Messer an die Kehle. Mit rauer Stimme befahl er.
„ Geh zurück ins Haus.“ Als Thomas sich noch nicht rührte, weil er immer noch wie erstarrt da stand, brüllte Ferry lauter und hielt die Klinge nun so eng am Hals des Jungen, das die Haut schon verletzt war und zu Bluten begann.
„ Du sollst ins Haus gehen, oder willst du das der Bengel hier stirbt?“
Als Thomas das Blut sah, kam er wieder zu sich. Er erkannte sofort die Situation und ging rückwärts zur Tür, wobei er die Beiden nicht aus den Augen ließ.
„ Hören sie Mister. Sie können alles haben was sie wollen. Ich habe zwanzig Dollar hier. Ein frisch geschossener Hase liegt schon ausgenommen in der Pfanne. Wir haben auch noch zwei Laibe Brot.
Aber Lassen sie um Himmelswillen den Jungen los.“
Thomas sprach laut, in der Hoffnung Jenny würde das hören und sich verstecken. Doch Jenny Wolf stand singend vor einem Spiegel im Schlafraum und kämmte ihr Haar. Sie wollte an diesem Abend besonders hübsch aussehen.
Es war einfach ein wunderschöner Tag. Langsam atmete sie die sanfte Frühlingsluft tief in ihre Lungen.
Wie gut das doch tat, nach einem so harten Winter. Sie stand vor ihrem Spiegel und betrachtete ihren Bauch. Es war noch nichts zu sehen. Ihr altes Kleid passte noch. Jenny legte beide Hände auf ihren Bauch, sie spürte das neue Leben das in ihr heran wuchs.
„ Bald bist du kugelrund.“ Sagte sie lächelnd zu ihrem Spiegelbild.
In der Stube roch es nach gebratenem Fleisch. Ferry sah sich nach allen Seiten um.
„ Wo ist dein Weib!“ kam es rostig aus seiner Kehle, doch bevor Thomas antworten konnte hörte der Fremde den Gesang einer feinen Stimme im Nebenraum.
Er zerrte Tom um den Tisch herum bis zur Tür. Er trat so kräftig dagegen, dass das Türblatt mit ganzer Wucht gegen die Kommode schlug.
Erschrocken sprang Jenny vom Stuhl, auf dem sie sich gerade gesetzt hatte.
Sie sah das Messer in der Hand des Eindringlings, das immer noch an Tom`s Kehle angesetzt war. Kreidebleich starrte Jenny den Fremden an und war wie zu Eis erfroren.
„ Los raus hier. Komm in die Stube. Ich brauche heißes Wasser und saubere Verbände.“ Fauchte Ferry sie an. Aber Jenny war nicht in der Lage sich zu bewegen. Sie spürte wie sich der Magen verkrampfte. Erst nur leicht, aber schnell wurden die schmerzen heftiger. Mit jedem Atemzug wurde es schlimmer.
Ferry stieß den Jungen von sich, sprang auf die hilflose Frau zu und packte sie derb am Arm. Er zog Jenny in die Stube. Mit seinen schmierigen Händen umklammerte er ihre Schultern.
Seine gelben Augen stierten sie an.
„ Ich habe gesagt du sollst Wasser kochen!“
Während Ferry Misses Wolf anschrie, bewegte sich Thomas ganz langsam Richtung Tür.
Tom stand an der Wand und sah zu seinem Vater hin. Er wusste genau was sein Pa nun vorhatte.
Neben der Tür stand die Winchester an der Wand angelehnt.
Es fehlten nur noch zwei kleine Schritte, bis er in Reichweite war.
Tom hielt den Atem an. Seine Augen wanderten immer hin und her, zwischen seinem Vater und dem Fremden.
Wie in Trance setzte Jenny einen Kessel auf den Ofen, dann brach sie zusammen.
„ Mutter!“ schrie Tom, stieß sich von der Wand ab, und rannte zur bewusstlosen Jenny hin.
Thomas setzte nun alles auf eine Karte. Er sprang seitwärts, bekam das Gewehr am Lauf zu packen,
doch bevor er es richtig in den Händen hielt war auch schon Ferry neben ihm.
Seine linke griff nach dem Holm, und mit der rechten Faust schlug er Thomas unters Kinn.
„ Das hast du dir ja fein ausgedacht, Alter.“ Er spuckte auf den bewusstlosen Körper und drehte sich dann zu dem Jungen um.
Tom biss die Zähne aufeinander, so sehr das man es knirschen hörte. Er kniete noch neben seiner Mutter als Ferry mit der geladenen Waffe auf Thomas Kopf zielte.
„ Du gehst raus zum Brunnen und holst Wasser. Wenn du nicht in drei Minuten wieder mit dem Vollen Eimer zurück bist, knalle ich den Alten hier ab. Hast du das Kapiert?“
Hastig nickte Tom mit dem Kopf. Er nahm den Eimer in die Hand und rannte raus zum Brunnen.
Dort hängte er den Holzeimer am Hacken und ließ ihn ins Tiefe hinunter.
Wut und Hilflosigkeit stieg in ihm auf. Er würde jetzt gerne in Mutters Armen liegen und sich ausweinen.
„Ein Mann weint nun mal nicht.“ Dachte er und schon hörte er Vaters Stimme im Kopf.
„ Junge. Du darfst nie die Nerven verlieren. Versuche in jeder Situation erst mal ruhig zu Denken. Mach deinen Kopf frei von Emotionen und konzentriere dich.“
Tom atmete tief ein. Dann kurbelte er den vollen Eimer mit der quietschenden Winde hoch.
Er fasste gerade nach dem Griff, als ihm ein Gedanke kam.
Mit dem Stiefel glättete Tom den Sand vorm Brunnenrand. Dann hob er ein Stöckchen auf und schrieb in den Sand: Hilfe! Überfall.2 Männer ( Ferry)
Wer immer auch zur Ranch kam, er musste hier vorbei, und würde den Hilferuf lesen.
Ein kleiner Funke Hoffnung machte ihm Mut.
Die Tür stand weit offen als Tom eintrat. Vater kniete neben Jenny und hielt ihren Kopf in seinen Händen.
Sein Kinn war rot und geschwollen vom Fausthieb.
Ferry saß auf dem Stuhl, hatte die Füße auf dem Tisch liegen und die Winchester in der Armbeuge. Sein Finger lag locker am Abzug und der Lauf der Waffe war auf Thomas gerichtet.
„ Na endlich!“ sagte er ohne Tom anzusehen. Sein Blick ruhte starr auf den gefährlichsten Gegner, den Vater.
„ Gieß das Wasser in den Kessel. Na los!“
Tom kam der Aufforderung nach. Er stand nun direkt neben seiner Mutter und blickte angstvoll in ihr blasses Gesicht.
Sie stöhnte leise als Thomas mit seiner Hand durch ihr Haar strich.
„ So Alter. Du gehst jetzt in den Stall und bringst meinen Gefährten hier rein. Für dich gilt das Selbe wie für den Jungen. Bist du nicht schnell genug wieder hier……,“ er machte mit seinem Daumen eine Gestik am Hals, die Eindeutig war.
Thomas zog seine Weste aus, und schob sie behutsam unter den Kopf seiner Frau.
Seine Kieferknochen zuckten, und ein guter Beobachter konnte seine angeschwollene Halsschlagader sehen. Thomas war zu allem bereit. Am liebsten wäre er dem Bandit entgegen gehechtet und hätte ihm den Schädel eingeschlagen, aber er durfte das Leben seiner Familie nicht aufs Spiel setzen. Wenn sein Vorhaben missglückte wären Tom und Jenny in größter Gefahr. Das allein hielt ihn von einem Angriff zurück.
In der Tür blieb er stehen und sah mit ernstem Blick Ferry an.
„ Wenn du meine Frau oder meinen Sohn auch nur ein Haar krümmst, schwöre ich dir, dass du in der Hölle schmorst.“
Mit dieser Drohung verließ Thomas das Haus und lief rüber zum Stall.
In einer der Boxen lag halb Ohnmächtig der Gefährte.
Er hob stöhnend vor schmerzen den Kopf, als er die Schritte hörte.
Mit gebrochener Stimme krächzte er.
„ Bist du es, Ferry?“
Thomas trat bis an den Verletzten heran. Stumm betrachtete er einige Sekunden lang den Hilflosen Mann, der da in seinem Stall sein Leben auszuhauchen schien.
Im Dämmerlicht der untergehenden Sonne sah Thomas das bleiche, blutleere Gesicht das ihn aus dunklen Augenhöhlen anstarrte.
„ Nein. Ich bin nicht Ferry.“ Sagte Thomas mit fester Stimme, und er bemerkte wie ein schrecken durch den Körper des Outlaws fuhr.
Er packte ihn unter die Schulter und brachte ihn in sitzende Stellung.
Ein Blutschwall Quoll in diesem Moment aus dem Mund und wie eine fadenlose Marionette sank der Oberkörper nach vorne.
Thomas lud den Körper auf seine Schulter, und trug ihn wie einen totgeschossenen Hirsch zum Haus rüber.
Ihm war klar, dass dieser Mann nicht mehr lang zu leben hatte.
Zurück in der Stube befahl Ferry ihn auf den Tisch zu legen.
Die Beine des Verletzten hingen runter, da er um einiges größer war als die Tischplatte.
Seine Hand hob sich in die Höhe. Kraftlos fiel sie wieder runter und wieder waren seine krächzenden Laute zu hören.
„ Ferry. Es tut gar nicht mehr weh. Ich spüre überhaupt nichts mehr. Ferry wo bist du? Ich kann nichts mehr sehen. Es ist so dunkel.“
Ferry ergriff seine Hand. Er hatte nun wohl auch begriffen, dass man hier nichts mehr tun konnte.
Nervös biss er auf seiner Unterlippe rum.
Tom kühlte die Stirn seiner Mutter mit einem nassen Tuch. Er beobachtete die beiden Männer, und es war ihm eiskalt im Herzen. Er spürte keinerlei Mitleid.
Stumm sah er zu wie vor seinen jungen Augen ein Mann sein Leben ließ.
Als den Fremden auf dem Tisch der Kopf zur Seite rollte, trat Ferry den Stuhl gegen die Wand. Tom zuckte zusammen. Aus seinen Gedanken gerissen sah er wie der Fremde in rasender Wut alles durch den Raum schmiss, was in seiner Nähe stand. Stühle, Tassen und die schönen Teller aus dem Wandbord, die einmal Jennys Mutter gehörten flogen durch die Luft.
„ Verdammt. Dieses Schwein. Dieser Marshall hat meinen Bruder erschossen. Ich bring ihn um.“
Er packte Thomas am Kragen und zog ihn zu sich heran. In rasender Wut schlug er auf den Unschuldigen Familienvater ein. Thomas versuchte sich zu wehren. Er konnte ein paar Schläge austeilen, aber er musste viel mehr einstecken.
Immer wieder drang die Faust Ferrys durch seine Deckung durch.
Im Wahn sah Ferry den Marshall Earp vor sich. Er schrie immer wieder.
„ Ich bring dich um, du elender Blechsternschlepper!“
Die beiden Männer wälzten am Boden, wobei Ferry immer wieder die Oberhand bekam.
Tom war klar, wie dieser Kampf am Ende ausgehen würde. Er sah wie sein Vater immer mehr an kraft verlor, während Ferry sich weiter steigerte in seiner Wut.
Ihm wurde auch in diesem Moment klar, was dann passieren würde. Weder er noch seine Mutter kämen hier lebend raus.Die Winchester. Sie lag neben dem Toten auf dem Tisch. Sie war die einzige Hoffnung das ganze zu seinen Gunsten zu beenden.
Noch war der Kampf im Gange, niemand achtete auf ihn. Entschlossen griff Tom nach der schweren Waffe.
Er stellte sich an die gegenüberliegende Wand. Genauso wie Vater es ihm vor wenigen Stunden zeigte, legte er das Gewehr an. Den Finger am Abzug wartete er auf einen sicheren Moment.
Und er musste nicht mal lange warten.
Thomas blieb am Boden liegen, und Ferry stand in voller größer über ihm. In seiner Hand blitzte jetzt das Messer auf, mit dem er Tom bedroht hatte bevor er das Gewehr an sich nahm.
Er war jetzt direkt in Toms Schusslinie.
Schweißperlen liefen ihm über die Stirn bis in die Augen. Sein Herz raste.
Ferry stieß einen Kampfschrei aus, wollte sich gerade auf sein Opfer stürzen, da donnerte ein gewaltiger Schuss durch den Raum.
Ein heftiger Stoß traf Ferry in den Rücken. Er wirbelte herum und stand auf schwankenden Beinen mitten im Zimmer. In seiner Hand hielt er noch immer verkrampft das Messer fest.
Seine gelblichen Augen waren matt und glanzlos. Er stierte den Jungen fassungslos an.
Tom stand immer noch an der Wand angelehnt. Das Gewehr noch im Anschlag.
In seinem Gesicht bewegte sich kein Muskel. Er war völlig angespannt, und zu allem bereit.
Ferry torkelte ein paar Schritte vor, brach dann aber im linken Knie ein. Mit letzter Kraft hielt er sich an der Tischplatte fest.
Er konnte sich noch einmal so weit hochziehen bis sein Kopf über die Kante reichte.
Aus seinen Mundwinkeln liefen dünne Blutfäden herunter. Noch einmal sah Ferry in das starre Antlitz seines Bruders, dessen Gesicht bleich und eingefallen ihm zugewandt war.
„ Karl, jetzt sind wir wieder zusammen.“ Waren seine letzten Worte.
Dumpf schlug sein Körper auf den Boden auf.
Thomas blickte kniend auf den Leblosen, und sah dann zu seinem Sohn auf.
Wie in Trance hielt Tom das Gewehr fest in seinen Händen.
Langsam erhob sich sein Vater und ging vorsichtig um den Tisch herum.
Der lange Lauf der Waffe zeigte genau auf seine Brust, und folgte seinen Bewegungen.
Thomas hob beide Hände in die Luft.
Die Augen des Jungen waren auf ihn gerichtet, aber sie sahen ihn nicht.
Sein Blick schien durch ihn durch zu gehen.
„ Tom! Ich bin es. Dein Vater. Es ist alles gut. Du kannst das Gewehr wieder runter nehmen. Hörst du?“
Thomas versuchte sanft auf den Sohn einzureden, aber dieser hörte seine Worte nicht.
Wie eine aus Holz geschnitzte Figur verharrte er auf seinem Platz an der Wand neben der Tür.
Plötzlich hörte Thomas Hufschläge. Erschrocken drehte er sich zum Fenster um, und in diesem Moment schoss eine Gewehrkugel dicht an seinem linken Ohr vorbei, und zerschlug die Scheibe.
Thomas warf sich zu Boden und blieb flach auf den Dielen liegen. Von hier aus konnte er nur die Beine seines Jungen sehen, aber wusste dass Tom immer noch im Schockzustand war. Er versuchte am Boden vorwärts zu robben. Er hatte schon fast das erste Tischbein erreicht, da flog die Haustür auf.
Im gleichen Moment zersplitterte der Rest des zerschossenen Fensterglases, und Thomas sah zwei 45ziger Frontierrevolver im Rahmen.
Der Mann in der Tür hatte die Situation schnell erkannt und griff nach dem Gewehr, welches Tom fest in seinen Händen hielt.
„ Alles in Ordnung!“ durchdrang eine tiefe Stimme den Raum.
Thomas erkannte sie sofort. Es war Marshall Wyatt Earp, der seinem Gefährten Doc. Holliday am Fenster ein Zeichen gab.
Holliday entspannte seine Revolver, ließ sie mit einem geschicktem Salto zurück in die Holster fliegen, und schwang sich durch das Fenster.
Dass der Mann auf dem Tisch Tot war, sah er auf den ersten Blick.
Er beugte sich zu Ferry runter und fühlte nach dessen Puls am Hals. Earp sah mit fragendem Blick zu ihm rüber, bis der Doc verneinend den Kopf schüttelte.
„ Er ist auch tot, Wyatt. Unsere Verfolgung endet ja dann wohl hier.“
Thomas war inzwischen aufgestanden. Er nahm Tom fest in seine Arme. Mit flehendem Blick sah er den Doc an.
„ Bitte Doktor. Sehen sie nach meiner Frau. Sie wurde Ohnmächtig als der er sie anbrüllte. Helfen sie ihr bitte. Jenny ist im dritten Monat schwanger.“
Doc Holliday hatte die regungslose, am Boden liegende Frau längst entdeckt.
Er hielt ihren Kopf hoch, legte eine Hand auf die heiße Stirn und spürte sofort, dass sie hohes Fieber hatte.
Er wollte sie gerade hoch heben, als er die Blutlache unter ihrem Rock sah.
Earp kam ihm schnell zu Hilfe. Er ging durch die offen stehende Schlafkammertür und schlug die Decke zurück.
Behutsam wurde Jenny auf ihr Bett gelegt. Während der Doc ihr die Bluse öffnete sagte er ohne aufzuschauen zu Wyatt.
„ Ich brauche meine Tasche.“ Und etwas leiser fügte er hinzu.
„ Sie wird ihr Kind verlieren, da kann ich nichts mehr machen.“
Thomas stand am Fußende des Bettes. Seine Finger umklammerten das Rundholz des verzierten Bettrahmens so stark, dass die Handknöchel weiß hervorstachen.
Er beobachtete jede Bewegung Doc Hollidays, und sprach leise ein Gebet vor sich hin.
Der Doc kühlte Jennys Stirn mit einem nassen Tuch, dann tastete er nach ihren Puls am Handgelenk.
Es dauerte nur wenige Minuten bis Marshall Earp zurückkam.
Er überreichte Holliday seine schwarze krokodillederne Doktortasche.
Als studierter Doktor der Zahnheilkunde und der Wundmedizin, führte er seine Tasche immer mit sich.
Das hatte sich schon oft bewährt, so auch dieses Mal.
Sorgfältig holte Holliday einige Instrumente hervor. Er legte sie auf ein sauberes Tuch und beträufelte alles mit einer Flüssigkeit aus einem kleinen braunen Fläschchen.
Dann ging er zur Wasserschüssel, krempelte die Hemdsärmel hoch, und wusch sich gründlich mit Seife die Hände.
Wyatt verstand sofort was Holliday von ihm wollte, als dieser ihm in die Augen blickte und zur Tür zwinkerte.
„ Kommen sie Mister Wolf. Der Doc wird sich um ihre Frau schon kümmern. Wir sollten besser draußen warten.“
Nur zögernd lockerte Thomas den Griff und folgte dem Marshall in die Stube.
Wyatt schob ihm einen Stuhl hin.
„ Bitte setzen sie sich. Ich sehe sie haben auf dem Regal eine Flasche Whisky stehen.“
Tom nahm sie runter. Seine Knie waren noch weich wie Butter, aber er ließ es sich nicht anmerken.
Er reichte die halbvolle Flasche dem Marshall und holte noch zwei Gläser aus dem Schrank.
Wyatt füllte nur ein Glas mit der Goldbraunen Flüssigkeit. Er reichte es Thomas und sagte.
„ Hier, nehmen sie einen kräftigen Schluck. Das wird ihnen gut tun. Ich bringe erst die zwei Toten nach draußen, dann reinigen wir ihre Wunden im Gesicht.“
Er kniete sich neben Tom, der ihn mit großen Augen ansah.
„ Ist alles in Ordnung bei dir?“ Fragte Wyatt, und der Junge schüttelte heftig den Kopf. Er hatte den Schock überwunden und war jetzt hellwach.
Wyatt strich ihm durch sein dichtes schwarzes Haar.
„ Du brauchst dir keine Gedanken machen, Junge. Du hast richtig gehandelt. Nur durch deinen Mut sind dein Vater und deine Mutter noch am leben. Ich weiß wie man sich fühlt, wenn man einen Menschen getötet hat. Wenn du Hilfe brauchst, oder mit jemanden darüber sprechen möchtest, kannst du jederzeit zu mir kommen.“
Er lächelte und fügte noch hinzu.
„ Ich weiß sogar wie man heiße Schokolade macht. Kuchen lassen wir besser von Misses Donald backen.“
Eine halbe Stunde später trat Doktor Holliday in die Stube.
Er trocknete seine Hände an einem Tuch ab, sein Blick war düster als er Thomas ansah.
„ Es tut mir Leid Mister Wolf. Aber wie schon befürchtet, hat ihre Frau das Baby verloren.
Ihr selber geht es sehr schlecht. Ich meine damit ihre Seele. Körperlich wird sie wieder gesund werden, aber über den inneren Schmerz müssen sie und ihr Sohn Misses Wolf hinweg helfen.“
Wyatt legte seine Hand auf Thomas Schulter. Er spürte das leichte Zittern in den Muskeln. Thomas hielt mit all seiner Kraft die Tränen zurück, die sich schon in seinen Augen sammelten.
Mit sanfter Stimme und voller Mitgefühl sprach Marshall Earp zu ihm.
„ Ich werde Reverend Williams bitten, dass er zu ihnen kommt. Es tut mir wirklich leid um das Baby.“
Wyatt hätte gern noch mehr tröstende Worte gesagt, aber er wusste nicht wie.
Zu groß war hier das Leid, zu viel war hier geschehen.
Stumm verließen Holliday und Earp das Haus, luden die Toten auf ihre Pferde und ritten zurück nach Tombstone.