Mit einem mal war er wach!
Es hatte anscheinend keinen besonderen Auslöser dafür gegeben, nein, es war gewesen, als hätte jemand einen Schalter betätigt oder als wäre eine Stoppuhr abgelaufen. Auf jeden Fall war Simon jetzt wach. Verwirrt von seinem abrupten Aufwachen sah er zur Decke und fragte sich:
Wo zur Hölle bin ich hier?
Tatsächlich hatte der junge Mann keine Ahnung, wo er sich befand, noch wusste er, wie er überhaupt hierher gekommen war. Langsam richtete er sich auf. Jeder Muskel schmerzte bei der Bewegung, wie bei dem schlimmsten Muskelkater der Welt. Benommen sah sich Simon in dem Raum um. Es war offensichtlich ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer mit einer netten Tapete (die von einem dezenten, unaufdringlichen Muster gesäumt wurde), teilweise fast antik aussehenden Möbeln und einem großen kupfernen Kreuz, das über der Tür prangerte. Doch der friedliche Eindruck wurde durch eine kleine, aber bedeutende Tatsache sehr geschwächt: Der Raum war komplett verwüstet.
Die alten Möbel waren entweder umgefallen oder zersplittert, der große Tisch in der Mitte des Raumes war sogar exakt in der Mitte in zwei Teile zerbrochen. Außerdem war der gesamte Boden mit Glassplittern übersät.
Glassplitter! Jetzt erst bemerkte Simon das riesige Loch in dem großen Panoramafenster, das einen herrlichen Blick über die Stadt bot. Nun sah es aus, als wäre ein großer, schwerer Vogel durch das Fenster hereingebrochen. Aber was für ein Vogel fällt denn in Wohnungen ein? Und ein Vogel dieser Größe mitten in der Stadt? Doch Simons Gedanken über den Urheber des ganzen Chaos wurden jäh unterbrochen, als er sich an den schmerzenden Kopf fasste und eine Flüssigkeit an seinen Händen spürte. Verwirrt blickte er seine Hände an, doch der Anblick ließ sein Blut zu Eis gefrieren.
Sie waren über und über mit Blut bedeckt! Da es kaum getrocknet war, konnte die Quelle dafür nicht weit sein. Voller Entsetzen sah Simon nun an sich herab, und was er sah, erschreckte ihn sogar noch mehr: Sein gesamter Oberkörper war von Blutspritzern übersät, wie seine Hände, und auch seine Jeans war inzwischen eher rot als blau. Das Hemd, das er getragen hatte, war zerrissen und hing nur noch als Überreste der Ärmel von seinen Schultern. Schuhe hatte er überhaupt keine an.
Simons Entsetzen nahm immer mehr zu. Hektisch kam er auf die Beine, während er nun immer mehr das Ausmaß des Schreckens in dem Raum wahrnahm. Das Muster der Tapete war überhaupt kein Muster, sondern verlaufenes Blut, und auch auf dem Boden fanden sich ganze Lachen des roten Lebenssaftes. Auch die Möbel waren nicht verschont geblieben. Als Simon sich hektisch in alle Richtungen umsah, musste er zu seinem eigenen Leidwesen die Quelle des Blutes sehen:
In der hinteren Ecke des Raumes lag, ganz schlaff, ein zerlumptes rotes Bündel, von dem kaum zu glauben war, dass es einmal ein Mensch gewesen sein sollte. Die Kleidung des armen Wesens, nein Mannes, war völlig zerfetzt, als hätte sich ein Rudel Wölfe daran zu schaffen gemacht.
Als Simon schließlich realisierte, um was es sich bei dem blutigen Bündel handelte (er war nie der schnellste gewesen) stieß er einen Schreckensschrei aus und stolperte einige Schritte zurück. Mit einem dumpfen Knirschen trat er auf eine Hälfte des zerbrochenen Tisches, zog sich einen tiefen Schnitt an seinem linken Fuß zu und fiel hart auf den Rücken! Mit einem mal wurde er sich der ganzen Eindrücke erst richtig bewusst: Eine zerfetzte Wohnung, auf den Straßen das leise Heulen von Polizeisirenen, die näher kamen, Blut an den Wänden, eine Leiche. Außerdem er selbst, mit zerrissenem Hemd und blutigen Händen, er musste aussehen wie der psychopathischste Mörder in der Geschichte!
„Fuck... Was ist hier los?“ sagte Simon mit zitternder Stimme in den Raum hinein. Er war kein Irrer, allerdings wies ungefähr alles in dem einstmals gemütlichen Wohnzimmer genau darauf hin.
„Muss mich beruhigen...“ murmelte er in sich hinein, während er sich mit aller Macht von dem erschreckenden Anblick des verstümmelten Körpers losriss. Eins nach dem Anderen, dachte er, über das Ganze hier nachdenken kann ich immer noch später... Aber wann war später? Sein Herz machte einen Sprung, als ihm auffiel dass die Polizeisirenen langsam lauter wurden.
Er sprang auf und verbannte sofort jeden unnötigen Gedanken aus seinem Geist, denn wenn er jetzt überhaupt etwas tun sollte dann ist es sofort abhauen, sonst konnte er sich in der geschlossen Anstalt zusammenreimen was hier passiert war. Trotzdem zögerte er noch einen Moment, bevor er aus dem Raum stürzte; Sein Blick haftete noch einen Moment auf der Leiche in der Ecke. Was für ein Leben er wohl geführt hatte, bis sein Leben so gewalttätig beendet wurde? Und war er selbst, Simon Holzner, dafür verantwortlich, der Typ, der noch nicht einmal in der Schule jemanden verprügelt hatte? Niemals...Es musste eine andere Erklärung dafür geben! Doch wenn ihn irgendjemand hier sehen würde, gäbe es wohl nicht mehr viele Gelegenheiten seine Unschuld zu beteuern.
Mit einem letzten, schmerzerfüllten Blick riss er sich zum zweiten Mal vom Anblick der Leiche los und hastete aus dem Zimmer auf den engen Wohnungsgang hinaus. Er erkannte die Wohnungstür an dem in die Tür eingebauten Guckloch und wollte sie schon öffnen, als er draußen gedämpft Stimmen hörte, dann ein Klopfen. „Sie überprüfen die verschiedenen Wohnungen, weil sie nicht wissen woher der Lärm kam...“ flüsterte er sich selbst zu. Gleichzeitig überschlug er seinen provisorischen Fluchtplan.
Er befand sich offensichtlich in einem Hochhaus, soviel konnte man aus dem Blick durch das kaputte Fenster schließen. Seine einzige Chance war die normale Treppe oder die Feuertreppe außen, wenn es eine gab. Müsste es eigentlich, überlegte Simon. Doch da er keine Ahnung hatte wohin konnte er wohl nichts weiter tun als rennen und hoffen dass er die richtige Richtung erwischte.
Da hörte er, wie sich eine Tür öffnete und wieder schloss, offensichtlich waren die Leute vom Hausgang in eine der Wohnungen gegangen, denn er hörte keine Stimmen mehr. Dass war seine Chance! Er scherte sich nicht darum ob ihn jemand hörte, jetzt zählte Geschwindigkeit! Er riss die Haustür auf, sah sich kurz um und sprintete den Gang nach links entlang, wo er das Treppenhaus vermutete. Gerade als er um die Ecke hetzte, hörte er eine der Wohnungstüren aufgehen.
Das war, dachte er, extrem knapp. Aber anscheinend hatte ihn niemand gehört. Vorsichtig und leise öffnete er die Tür zum Treppenhaus. Sein Herz hämmerte immer noch wie ein Presslufthammer als er die Treppen hinunterhechtete, aber der Gedanke an eine sichere Flucht beruhigte ihn.
Doch es sollte nicht so einfach werden! Von unten hörte er, wie eine schwere Tür aufgestoßen wurde und mindestens zwei Personen sich laut unterhielten:
„...ist hier eigentlich los? Einbrecher?“
„Neee, eigentlich wissen wir gar nicht worum es hier eigentlich geht. Da hat irgendein Hausbewohner angerufen und gesagt, es wären Kampfgeräusche zu hören gewesen.“
Der Zweite lachte. „Na dann mal auf Gefechtsbereitschaft schalten, Kapitän!“
„Jetzt red nicht so dumm daher.“, erwiderte der Erste in einem ermahnenden Ton, „Wahrscheinlich hat nur jemand den Fernseher zu laut gestellt, aber trotzdem soll man nie zu unvorsichtig sein.“
„Ok ich habs ja kapiert. Und in welchem....“
Mehr wollte Simon gar nicht hören! Das da unten waren offensichtlich Polizisten, und das war verdammt schlecht! Gleichzeitig von Panik und der Angst gehört zu werden getrieben, öffnete Simon die Tür zu einem kleinen Lagerraum und setzte sich hinein. Mit etwas Willenkraft zwang er sich dazu, nicht zu Schnaufen wie ein Esel, was ihm seltsamerweise selbst nach dem Sprinten wesentlich leichter fiel als eigentlich erwartet hätte. Hat sich mein Training endlich mal gelohnt, dachte er sich im Stillen, was ihm sogar ein kleines Lächeln über diesen Gedanken entlockte. Atemlos hörte er, wie das Gerede der Polizisten immer näher kam, immer näher, immer näher, bis er hören konnte wie sie vor der Tür waren, und einen Augenblick setzte sein Herz aus weil er dachte sie würden stehen bleiben. Doch dann sagt der ältere der beiden etwas, und die Gesetzeshüter stiegen weiter nach oben. Simon atmete erleichtert aus.
Doch nun würde es auf das Timing ankommen. Er musste warten, bis die Polizisten weit genug weg waren um ihn nicht zu bemerken, aber er musste auch weit genug weg von hier, damit ihn keiner mit dem bestialischen Mord in Verbindung brachte.
Plötzlich fiel ihm etwas ein, ein Faktum welches er übersehen hatte, und Adrenalin schoss ihm wie heißes Blei durch die Adern und lähmte ihn. Der Schnitt an seinem Fuß! Überall mussten rote Fußabdrücke von ihm sein!
Langsam, immer noch fast starr vor dieser Erkenntnis, nahm er seinen linken Fuß in seine beiden Hände und dreht ihn. Was er jedoch da sah, schockte ihn fast noch mehr als sich an den Fuß zu erinnern:
Der Schnitt war verschwunden. Besser gesagt, er war offensichtlich fast ohne Narbe verheilt. Nur ganz leicht zeichnete sich eine dünne rosafarbene Linie ab, aber sie sah bereits so gut verheilt aus als ob sie mehrere Monate alt wäre. Simon weitete die Augen. Wieder beschlich ihn das gleiche Gefühl wie in der Wohnung, wo etwas Unerklärliches passiert war. Und nun das! Das war einfach zuviel....Simon ließ den Fuß sinken, fasste sich an den Kopf und sank langsam an der Wand angelehnt nach unten.
„Was ist hier bloß los...?“ flüsterte er in die leere Abstellkammer hinein. Er war so sicher gewesen, dass er sich einen langen und tiefen Schnitt am linken Fuß zugezogen hatte, eine Wunde, die ausgewaschen werden müsste und die noch lange schmerzen würde. Dennoch strafte die Realität seine Erinnerungen Lügen.
„Reiß dich zusammen!“ stieß er nach kurzem Nachdenken hervor. Um sich selbst aus den Gedanken zu reißen gab er sich eine kräftige Ohrfeige. Vielleicht bin ich doch irre, dachte Simon sich, bei den ganzen Selbstgesprächen. Schließlich zog er sich an der Türklinke hinauf und trat wieder in das Treppenhaus.
Alles war still, und ein kurzer Blick auf die Treppenstufen verriet ihm, dass er anscheinend keine blutigen Fußspuren hinterlassen hatte. Wo wohl der Fuß aufgehört hatte zu bluten? Diesen Gedanken von sich werfend, rannte Simon die restlichen Treppenstufen nach unten.
Erst jetzt bemerkte er, dass es ungefähr sechs Uhr früh sein musste. Die Sonne ging gerade auf und die Straßen waren noch jungfräulich leer, wie ihm ein Blick aus dem Treppenfenster verriet. Deshalb waren ihm keine Menschen begegnet, obwohl in solchen Wohnblöcken bis zu hundert Familien Platz finden. Unten lugte er kurz aus dem Haupteingang hinaus, entschied sich dann aber für den gegenüberliegenden Ausgang zum Hinterhof.
Wie im Hausinneren war auch hier keine Menschenseele, und die Balkons waren zum Glück ausschließlich auf der anderen Seite des Hauses. Sich gehetzt umblickend lief er über den kleinen Hof und steuerte auf die ungefähr 2,5m hohe Mauer zu. Als er die Mauer als Hindernis vor sich wahrnahm, stieg urplötzlich ein vertrautes Gefühl in ihm hoch, eine Art Urinstinkt. Ohne den geringsten Anflug von Zweifel erhöhte er sein Tempo, sprang erstaunlich geschickt in die Höhe und bekam die Oberseite der Mauer mit beiden Armen zu fassen. Und stemmte sich ohne Mühe so ruckartig nach oben sodass er in hohem Bogen über die Mauer hinwegsprang.
Erst als Simon geschickt und wohlbehalten auf seinen Beinen landete wurde ihm klar, dass er wahrscheinlich gerade einen Olympischen Rekord aufgestellt hatte, auch wenn er keine Ahnung hatte ob es für solche Aktionen eine passende Disziplin gab. Mit geweiteten Augen (Das kam an diesem Tag viel zu oft vor) drehte er sich um und betrachtete die Mauer, die gerade übersprungen, nicht überklettert, übersprungen hatte. Nun war ihm endgültig klar: Hier stimmt etwas nicht...
Verglichen mit den bisherigen Strapazen gestaltete sich der restliche Nachhauseweg sehr einfach. Nachdem er sich auf einer öffentlichen Toilette die Hände gewaschen und die Reste seines Hemdes entsorgt hatte, stellte er fest dass er sich gar nicht so weit von seiner Wohnung entfernt befand. Glücklicherweise war es dieser Tage so heiß, dass er nicht sonderlich auffiel ohne Oberkörperbekleidung. Er traf sogar eine Gruppe aus Joggern, die ebenfalls ohne Hemd ihren Frühsport betrieben, was sie jedoch angesichts ihrer Bierbäuche besser gelassen hätten. Umso erfreulicher waren da die beiden jungen Frauen, die nur mit der nötigsten Bekleidung gut auskamen...
Doch Simon hatte kein Auge für das frühsamstagliche Treiben auf den Straßen Berlins. Wie ein Phantom schlich er sich über zahlreiche Umwege zu seiner kleinen Wohnung, tief in Gedanken und Spekulationen darüber versunken, was passiert war.
Doch er bemerkte nicht, dass trotz aller Vorsicht eine in einen Kapuzenmantel gehüllte Gestalt ihn die ganze Zeit über beobachtete. Als Simon schließlich die Sicherheit seiner Wohnung erreichte, zog die Gestalt, die eine Straßenecke entfernt stand, ein Handy hervor, wählte eine Kurzwahlnummer und sprach genau zwei Worte: „Ziel gefunden.“