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Prosa => Liebe


Zurück zu Dir - Kap. 2 - von Hermine, 20.11.2012
Nicht mehr allein


Alison:
Die Tür öffnete sich, und als erstes kam Alicia wieder herein. Sie zog Dominic hinter sich her. Alicia und er waren schon ein paar Jahre zusammen. Schon im ersten Semester hatten sie sich kennen gelernt, und seitdem kaum einen Tag ohne den Anderen verbracht. Dominic lächelte mich sanft an.
„Hallo, Alison.“, begrüßte er mich mit ruhiger Stimme. Dominic war das komplette Gegenteil von Alicia. Sie waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Alicia die kleine, ständig plappernde, rumwuselnde Schwarzhaarige. Und Dominic, der große, ruhige Blonde. Alicias Ruhepol. Manchmal wirkte Dominic auf mich wie ein Planet, der ruhig seine Bahnen durchs Universum zog, und Alicia war der kleine Mond, der um ihn herumkreiste.
Ich erhob mich vom Stuhl, begrüßte Dominic und Rebecca, die nach ihm durch die Tür kam. Sie umarmte mich, hauchte mir einen Kuss auf die Wange. Rebecca war der Inbegriff der kühlen Blondine. Ich kannte sie schon seit der Schulzeit. Rebecca war ein guter Mensch, sie war für ihre Freunde da, und verteidigte sie wie eine Löwin. Sie war die klassische Schulballkönigin, die alle bewunderten, der alle nacheiferten. Ich war die graue Maus. Die Freundin, die keiner sah. Neben Rebecca war ich unscheinbar, wurde nicht wahrgenommen.
Erst durch Will änderte sich etwas. Ich änderte mich. Ich war nicht länger unscheinbar. Wills Liebe erfüllte mich, ließ mich von innen heraus strahlen. Durch ihn fühlte ich mich vollkommen. Und nun war ich zerbrochen. In tausend Stücke. Wie eine Vase, die man fallen gelassen hat.

Hinter Rose kam Kevin, ein unheimlich großer Kerl. Der einzige „Nicht-Student“ unter uns. Kevin arbeitete als Kfz-Mechaniker in der Stadt. Rebecca fuhr letzten Herbst ihren, von Papa gesponsorten BMW – Z3 zur Inspektion in Kevins Werkstatt. Ich sah es genau vor mir, wie Kevin mit ölverschmierten Händen, das T-Shirt eng um seine Muskeln gespannt, auf Rose zuging. Was Anfangs pure Leidenschaft war, wurde zu inniger Liebe, und zu Rebeccas bisher längster Beziehung. Damit kannte Kevin Will am kürzesten von uns allen.

Ganz im Gegenteil zu demjenigen, der nun das Esszimmer betrat. Dean.
Ich senkte meinen Blick, konnte ihm nicht in die Augen sehen. Aus Angst vor dem was ich sehen könnte. Wut, Hass, Anklage. Nach Wills Beerdigung hatte ich Dean vielleicht dreimal gesehen. Auch er versuchte scheinbar diese Treffen unserer alten Clique zu vermeiden. Wer konnte ihm das verübeln? Hatte er doch mit Will einen der wichtigsten Menschen in seinem Leben verloren. Seinen Bruder. Und deshalb konnte ich ihn nicht ansehen. Ich wich ihm aus, ging ihm so gut es ging aus dem Weg. Schwänzte unsere gemeinsamen Vorlesungen. Und das obwohl er doch mein bester Freund war. Oder es zumindest früher war. Durch Dean hatte ich Will kennen gelernt. Wahrscheinlich wünschte Dean sich heute, er hätte uns nie bekannt gemacht. Dann würde Will heute vielleicht noch leben. Aber so war es eben nicht gewesen.

Dean und ich hatten einige Vorlesungen zusammen. Er wurde neben Alicia zu meinem besten Freund, und so wurde unser kleiner Freundeskreis immer größer. Erst Alicia, Rebecca und ich, dann Dominic, Kevin und Dean. Und schließlich Will, nachdem er es endlich geschafft hatte, an derselben Uni wie sein Bruder einen Studiumsplatz zu erhalten.
Ich lernte Will kennen und lieben. Auf den ersten Blick. Meine Gedanken flogen zu dem Moment als ich Will das erste Mal sah. Auf der Geburtstagsparty von Dominic. Ich sah ihn immer noch genau vor mir. In Blue-Jeans und weißem Hemd. Ein ansteckendes Grinsen auf den Lippen. Grau-grüne, blitzende Augen. Blonde Locken. Ich glaubte, ich hatte ihn wirklich mit offenem Mund angestarrt. Und es war kaum zu glauben, aber er sah mich. Nur mich. Nicht Rebecca, oder eine der anderen hübschen Studentinnen, die sich auf der Party tummelten.
Wir tanzten den ganzen Abend zusammen, blendeten die Welt um uns aus. Nur wir beide. Ich konnte immer noch seinen Atem auf mir fühlen, sein Parfüm riechen. Ich spürte immer noch den Stoff seines Hemdes unter meinen Händen. Und ich hörte immer noch seine Antwort auf meine geflüsterte Frage:
„Wo bist du nur gewesen?“
„Auf der Suche nach Dir!“

Ich kniff mit verzerrtem Gesicht meine Augen zu. All das ging mir durch den Kopf, als Dean den Raum betrat. Vielleicht war das Teil meiner Strafe. Immer wieder an Will erinnert zu werden.
Alle setzten sich, und Alicia, ganz die perfekte Gastgeberin, verteilte Wein und Kekse. Es war noch zu früh für ein Abendessen, aber ich ahnte schon, dass der Abend mit Pizza auf dem Sofa enden würde.
Dean schien sich auch etwas unbehaglich zu fühlen. Er rutschte nervös auf seinem Stuhl herum. In unbeobachteten Momenten warf ich immer wieder einen vorsichtigen Blick auf ihn. Er sah ganz anders aus als sein Bruder. Er hatte dunkle, bronzefarbene Haare, grüne Augen, aber ein ebenfalls ansteckendes Lächeln. Doch ich hatte ihn schon ewig nicht mehr lächeln sehen. Ich sehnte mich sehr nach ihm. Nach meinem besten Freund. Ich vermisste ihn fast so sehr wie Will.
Dean schaute plötzlich auf. Und ich war mal wieder zu sehr in Gedanken, um zu reagieren. Er blickte mich an, mit seinen moosgrünen Augen. Ich sah weg. Schnell. Schloss meine Augen, und atmete tief ein. Nein, heute war Schluss. Wenn Dean die Kraft hatte, hierher zu kommen, sich mit mir an einen Tisch zu setzen, und mich anzusehen. Dann war ich es ihm wohl auch schuldig, ihm in die Augen zu sehen, und alles zu ertragen.
Ich öffnete meine Augenlider, und begegnete Deans Blick. Ich erwartete die geballte Wucht an Gefühlen. Seinen puren Hass, seine unbändige Wut, seinen tiefen Schmerz. Aber stattdessen blickte ich in traurige, aber auch besorgte Augen. Besorgt? Um wen? Sich? Mich?
Verwirrt und sehr aufgewühlt erhob ich mich, riss mich von seinem fesselnden Blick los, und verschwand durch die Balkontür. Die Gespräche verstummten, und ich wusste, alle sahen mir hinterher. Ich hörte Alicias Stimme:
„Ich schaue mal nach …“ Sie unterbrach sich.

Ich stand am Balkongeländer, krallte mich fest, suche Halt. Die kalte Luft strömte in meine Lungen, kühlte mein erhitztes Gesicht.
Jemand öffnete leise die Tür und schloss sie fast lautlos. Ich erwartete schon Alicias Hand auf meiner Schulter und ihre helle Stimme. Doch mein Herz blieb fast stehen, als eine männliche, immer noch sehr vertraute Stimme mich ansprach.
„Alison?“
Oh, mein Gott. Von all meinen Freunden musste ausgerechnet ER mir hinterher gehen. Ich schluckte hart, schaute weiterhin in die Dunkelheit.
„Wie geht es Dir?“, fragte Dean mit samtiger Stimme. Ich zögerte, drehte ihm aber dann doch meinen Kopf zu.
Besorgt sah er mich an. MICH! Die doch an allem schuld war. Zuerst war ich wütend. Ich hatte seine Fürsorge nicht verdient. Doch mein Herz lechzte nach Zuwendung. Es war zu lange alleine. Mit all meinem Schmerz und meiner Trauer.
„Gut.“ Die Lüge ging mir inzwischen locker von den Lippen. Und die wenigsten fragten wirklich nach der Wahrheit. Die meisten wollten lieber die bequeme Lüge hören, damit sie zur Tagesordnung übergehen konnten. Doch Dean konnte ich nicht belügen. Er durchschaute mich. Und vor allem gab er sich nicht mit der Lüge zufrieden. Dean zog seine Augenbraue hoch, und fragte nochmals mit Nachdruck:
„Wie geht es Dir?“ Innerlich musste ich über seine Hartnäckigkeit lächeln. Wie sehr ich das vermisst hatte. Wie sehr ich ihn vermisst hatte. Und mein verkümmertes Herz regte sich etwas, als mir bewusst wurde, dass er wirklich um mich besorgt war. Dabei schmerzte sein Herz doch mindestens genauso. Ich seufzte tief, und antwortete:
„Wie Dir. Ein schwerer Tag nach dem anderen.“ Dean nickte wissend. Er stellte sich dicht neben mich an das Balkongeländer, legte seine Hände auf das Holz und schaute hinaus in die Nacht. Sein Atem hinterließ kleine Wolken in der Kälte. Ich betrachtete sein Profil, seine gerade Nase, seine geschwungenen Lippen. Seine kleine Narbe über seinem linken Auge, die er sich als Kind zugezogen hatte, als er auf seinem Bett rumgehüpft war, bis er sich sein Auge am Bettknauf aufgeschlagen hatte.
„Ich vermisse ihn.“, flüsterte er so leise, dass ich ihn kaum verstand, aber dennoch gingen seine Worte mir tief ins Herz. Dean sah mich an. Abwartend, traurig. Ich senkte meinen Blick.
„Ich auch.“, flüsterte ich zurück. Hektisch blinzelte ich mit den Augenlidern, um die Tränen zurückzudrängen. >Vermissen< beschrieb nicht mal annähernd meine Gefühle, oder auch Nicht-gefühle. Denn oft fühlte ich nichts mehr. War ganz leer.
Dean drehte sich um, lehnte sich gegen die Balkonbrüstung, und schaute durch die Balkontür zu unseren Freunden. Ich drehte meinen Kopf und folgte seinem Blick. Alicia saß auf Dominics Schoß, lachte Rebecca an. Ihre Hand ruhte auf seinem Nacken, kraulte ihn sanft. Mit seinem typischen Grinsen schaute Dominic in die Runde und amüsierte sich scheinbar köstlich. Kevin und Rebecca saßen ihnen gegenüber, dicht nebeneinander, Kevin hatte Rose den Arm umgelegt, und Rose ihre Hand auf seinem Oberschenkel. Sie sahen alle sehr glücklich aus.
Wieder durchfuhr mich ein Gefühl. Eifersucht. Wieso musste mein Freund sterben? Wieso war ich diejenige die hier draußen steht? Voller Trauer und Schuldgefühlen? Warum musste mich das Schicksal so treffen? Mit voller Wucht? Wie ein Schnellzug?
„Besonders an so Abenden wie heute.“ Deans Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Wortlos starrte ich ihn an. Wartete darauf, dass er fortfuhr.
„Will hat diese Abende geliebt. Alle auf einem Haufen, und er mittendrin.“ Ich lächelte leicht bei dem Bild, das vor meinem inneren Auge erschien. Ja, Will war gerne unter Menschen, vor allem unter seinen Freunden.
Dean wandte sich vom Bild der Anderen ab, stellte sich wieder neben mich. Ganz nah. Unsere Arme berührten sich fast. Er lachte auf. Und ich beneidete ihn darum.
„Weißt du noch? Letztes Silvester? Als er auf seinem Stuhl rumgehampelte, bis schließlich die Rückenlehne abgebrochen ist?“ Oh ja, das wusste ich noch. Will war nach hinten vom Stuhl gefallen und mit dem Kopf an den Schrank geknallt. Er hatte sich eine Platzwunde am Hinterkopf zugezogen, die im Krankenhaus genäht werden musste. Und wir erlebten Neujahr auf der Notaufnahme, zwischen Ärzten, Krankenschwestern und anderen Patienten. Will fand das alles sehr lustig, und meinte zu mir, die nicht sehr amüsiert war, dass ich auch eines Tages darüber lachen würde.
Nun, ich lachte zwar nicht, aber zum ersten Mal seit Monaten verzogen sich meine Lippen zu einem leichten Grinsen.
Dean lächelte mich an. Ich wusste nicht, ob er es wegen der Erinnerung an Will machte, oder weil er mich zum Grinsen gebracht hatte.
Dankbar legte ich meine Hand auf seine. Sie war warm, im Gegensatz zu meiner. Meine Finger waren eiskalt. Dean schaute hinab.
„Danke.“, hauchte ich. Noch immer blickte er auf unsere Hände, ehe er sprach.
„Weißt du, was Will mal zu mir sagte?“ Er stockte. Eine rhetorische Frage, also wartete ich ab.
„Er sagte, dass es unsere „Brüder-Aufgabe“ wäre, auf dich aufzupassen. Ich, als dein bester Freund, und Will, als dein…“, er ließ den Satz unbeendet, und ich war ihm dankbar dafür.
Dean hob seinen Kopf, sah mich eindringlich an.
„Ich habe meine Aufgabe in den letzten Monaten etwas vernachlässigt. Aber das werde ich nun ändern.“
Er drehte seine Hand unter meiner, umfasste meine Finger, und hielt sie fest.
Ich lehnte mich an ihn, und legte meinen Kopf an seine Schulter. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit, hatte ich das Gefühl, dass ich vielleicht doch ein wenig glücklich werden könnte.
Denn mein bester Freund war wieder bei mir.


























Dean:
Der gestrige Abend spukte mir noch durch den Kopf. Ich hatte eigentlich gar nicht mit gewollt. Aber Alicia konnte wirklich hartnäckig sein. Sie brachte Dominic dazu mich abzuholen und mitzuschleifen.
Als ich schließlich durch den Flur marschierte, ins Esszimmer von Alicia und Alison, dachte ich nur daran diesen Abend hinter mich zu bringen. Aber dann sah ich Alison. Dieses Häufchen Elend.
Sie wollte mir nicht in die Augen sehen. Oder konnte es nicht? Dabei wollte ich so gerne in ihre Augen sehen. Denn dann würde ich wissen, wie es ihr geht.
Den ganzen Abend suchte ich ihren Blick, doch sie wich mir ständig aus. Alison beteiligte sich nicht an den Gesprächen, starrte teilnahmslos auf den Fleck vor sich auf dem Tisch, und warf nur hin und wieder einen vorsichtigen Blick zu mir. Jedes Mal senkte sie schnell wieder ihre Augen, ehe ich hoch schauen konnte. Doch irgendwann hatte ich sie. Erschrocken sah sie mich an. Dann schob sie plötzlich ihren Stuhl nach hinten und verschwand zum Balkon hinaus.
Alicia wollte ihr nachgehen, aber ich kam ihr zuvor.

Auf dem Balkon stellte ich mich zu Alison. Schon lange war ich ihr nicht mehr so nach gewesen. Ich konnte ihr Shampoo riechen. Ihre Trauer fühlen, die wie kleine Wellen von ihr ausgestrahlt wurde.
Ich wollte wissen, wie es ihr geht. Wollte sie zum Reden bringen.

Und sie log mich an. Ich glaube, sie hat mich noch nie belogen. Sie war so leicht zu durchschauen. Und das zeigte ich ihr auch.
Doch Alison zeigte mir auch, wie leicht ich zu durchschauen war. Sie hielt mir den sprichwörtlichen Spiegel vor.
Und so standen wir da, endlos traurig. Nebeneinander, ganz nah und doch alleine. Ich hatte es so satt alleine zu sein. Ich wollte endlich wieder mit Alison reden. Ihrer Stimme lauschen, dem Klang ihres Lachens. Mir fehlt ihre Nähe.

Ich betrachtete unsere Freunde, die lachten und Spaß hatten. Wir standen wie Außenseiter draußen. Für sie ging das Leben weiter. Unseres stand still. In diesem Moment beschloss ich, dass wir wieder dazugehören sollten. Auch wir sollten wieder lachen dürfen. Ich wollte Alison zum Lachen bringen. Oder wenigstens zum Lächeln. Ich brauchte es so sehr, sie lächeln zu sehen. Ich wusste, wenn sie lächeln würde, würden wir es auch schaffen.
Und so erinnerte ich mich und sie an eine wirklich lustige Situation mit Will. Scheu grinste sie mich an. Die Erinnerung an Wills „Silvester-Stuhl-Sturz“ war aber auch zu komisch. Alison musste grinsen, und ich tat es ihr gleich. Ich fühlte, wie das vernachlässigte Band zwischen uns wieder fester wurde.

Alison legte ihre Hand auf meine, und ich starrte nur erstaunt darauf. Noch zu Beginn des Abends konnte sie mich nicht ansehen, und nun berührte sie mich.
Ich erzählte ihr von Wills „Brüder-Aufgabe“, und dass ich mich nun daran halten würde. Will hatte es damals anders ausgedrückt, als ich ihr gegenüber zugab. Er hatte nicht von „aufpassen“ gesprochen, sondern von „lieben“. Will ahnte schon, dass ich mehr für Alison empfand, als gut für mich war.

Zurück bei den Anderen lachten wir natürlich nicht mit. Zu tief saß noch der Schmerz. Aber die Heilung hatte endlich begonnen. Bei uns beiden. Wir schauten uns zwischendurch wissend an, ab und zu huschte ein Lächeln über unsere Lippen.
Heute Morgen war ich seit langem mal wieder pünktlich auf dem Weg zur Uni. Ich hatte Alison gestern beim Abschied das Versprechen abgerungen, ebenfalls zur Vorlesung zu kommen.
Es hatte heute Nacht noch geregnet. Die Wege waren mit nassem Laub bedeckt. Es war so ein Tag, an dem es nicht richtig hell wurde. An dem man das Gefühl hatte, gar nicht richtig wach zu werden.

Ich lief die Stufen zum Uni-Gebäude hoch. Und da stand sie. In ihre Jacke gehüllt, die Kapuze auf dem Kopf, die Tasche auf der Schulter, und suchte die Studentenmenge ab. Als Alison mich entdeckte, lächelte sie erleichtert.
„Hi.“, begrüßte ich sie, als ich bei ihr ankam.
„Hi.“, sie lächelte immer noch, und ich saugte wie ein Lebenselixier auf.
„Sollen wir?“, ich wies Richtung Eingang. Alison nickte, und hakte ihren Arm bei mir unter.
Punkt 1, >Mit Alison wieder zur Vorlesung gehen.< erfüllt.
Letzte Nacht hatte ich mir geschworen, Alison nicht mehr alleine zu lassen, so wie die letzten Monate. Ich hatte mir verschiedene Dinge überlegt, die ich tun wollte, um ihr zu helfen, um auch mir zu helfen. Ich wollte diese Liste abarbeiten. Vielleicht hoffte auch ein kleiner Teil in mir, ihr darüber näher zu kommen. Ich wollte nicht so sehr über diesen Aspekt meiner Gefühle für Alison nachdenken. Ich konnte meinen Gedanken und Gefühlen dahin nicht folgen. Denn ich wusste, wenn mein Bruder noch leben würde, dann wäre er mit Alison zusammen. Und nicht ich. Ich hasste mich selbst für meine Liebe zu Alison. Es war als würde ich Will hintergehen.
Ich musste meine Liebe in einem kleinen Teil meines Herzens einschließen. Damit ich der Freund sein konnte, den Alison braucht.

Wir folgten der Vorlesung, und gingen auch noch zur Nächsten. Mittags aßen wir etwas in der Cafeteria, diskutierten über das eben Gehörte. Es war fast wie früher. Jeder Außenstehende würde das höchstwahrscheinlich genauso sehen. Nur wer genau hinsah, konnte die kleinen Risse in der Fassade entdecken, wenn Alisons Augen leer wurden, und sie ganz abwesend war. Wenn ihr Lächeln verschwand, und die Trauer zu groß wurde. Dann nahm ich ihre Hand und holte sie wieder zurück. Aus dem Schmerz, zurück zu mir.

Nachmittags schliff ich Alison in die Bibliothek zu unserer ehemaligen Lerngruppe. Mark, Ben und Christina freuten sich uns zu sehen. Und nahmen uns selbstverständlich wieder in die Gruppe auf. Wir hatten einiges nachzuholen, doch die Drei versprachen uns zu helfen. So hatten wir den Rest des Nachmittages keine Zeit mehr für Trauer. Alison arbeitete fieberhaft mit, sie war ehrgeizig dabei. Ich freute mich über ihre Anstrengung, aber auch ich hatte nicht weniger aufzuholen.

Es war erst halb sechs, als wir die Uni-Bibliothek verließen. Und der Himmel schon dunkel. Es hatte wieder angefangen zu regnen, so dass wir alle unsere Kapuzen oder Regenschirme raus zogen. Wir verabschiedeten uns von unseren Kommilitonen.
Alison hakte sich bei mir unter, damit ich zu ihr unter den Regenschirm konnte. Eine Weile liefen wir schweigend über das Unigelände. Die Regentropfen fielen vom Schirm auf unsere Schultern.
„Und?“, fragte ich sie.
„Was und?“, kam auch schon prompt die Gegenfrage.
„Wie war dein Tag?“, ein Lächeln auf meinen Lippen. Zaghaft lächelte sie zurück.
„Gar nicht so schlimm.“, gab sie schließlich zu, schaute wieder vor sich auf den Boden.
„Ein Schritt nach dem Anderen.“, murmelte ich. Ich zögerte vor meiner nächsten Frage, da ich ihre Reaktion diesmal überhaupt nicht einschätzen konnte.
„Ähm.“, ich räusperte mich, und sie sah mich wieder an. Fragend, mit gerunzelter Stirn.
„Alison?“, wieder stockte ich.
„Ja?“, hakte sie nach, und lächelte mich ermutigend an.
„Meine Eltern haben nach dir gefragt.“, jetzt war es raus. Alison blieb ruckartig stehen. Entsetzt sah sie mich an. Okay, das war vielleicht doch zu früh gewesen.
„Was?“, hauchte sie kaum hörbar. Ich nahm schnell ihre Hand, und drückte sie sachte.
„Ist schon okay. Sie wollen nur wissen, wie es dir geht.“, versuchte ich sie zu beruhigen. Ich sah ihre Panik in ihren braunen Augen.
„Oh, äh…“, sie fing an zu stottern. Mit meiner Hand umfasste ich ihr Kinn, und zwang sie mich anzusehen.
„Alison. Es ist okay. Alles ist okay.“
„Ich kann nicht. Noch nicht.“ Ihre Stimme war nur ein Flüstern.
„Das ist okay. Du musst ja auch nicht. Sie haben aber wohl noch ein paar Dinge von Will, die für dich bestimmt sind.“ Sie versteifte sich.
„Du kannst sie haben, wann immer du willst. Wenn du bereit dafür bist.“, fuhr ich fort. Alison nickte heftig, während sie diese Information in sich aufnahm.

Ich legte ihr meinen Arm um, und zog sie weiter. Schweigend gingen wir weiter durch die Stadt.
„Was sind das für Dinge?“, flüsterte sie plötzlich.
„Ich weiß es nicht.“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Den Rest bis zu ihrer Wohnung schwiegen wir.
Sie zog ihre Wohnungsschlüssel aus der Jacke, stieg eine Stufe zur Tür hinauf.
„Gute Nacht, Alison.“ Sie sah mich nachdenklich an. Zögernd.
„Sind sie böse auf mich?“, kam ihre Frage, die sie die ganze Zeit beschäftigt hatte.
„Böse? Auf Dich? Wieso sollten sie auf dich böse sein?“ Alison blieb mir die Antwort schuldig, und so fuhr ich fort:
„Sie sind lediglich um dich besorgt. Du hast dich nicht bei ihnen gemeldet. Reagierst nicht auf ihre Anrufe.“ In Alisons Augen sammelten sich Tränen. Ich folgte ich auf die Treppe, und nahm sie in den Arm.
„Shht. Ist doch gut. Das sollte kein Vorwurf sein. Wirklich nicht. Sie wollen dich nur mal gerne wieder sehen.“, flüsterte ich ihr ins Ohr. Alison schniefte kurz.
„Ich weiß nicht, ob ich das schon kann.“, flüsterte sie zurück.
„Hey, ich komme mit. Ich bin bei dir. Okay?“ Alison nickte kurz. Ich beschloss ihr keine Rückzugsmöglichkeit zu geben. Dachte, dass ein Sprung ins kalte Wasser vielleicht nicht schlecht war, und fuhr fort.
„Wie wäre es, wenn wir übermorgen zu ihnen fahren?“, Alison zuckte in meinen Armen. Ich konnte ihre Angst spüren.
„Oh, ich weiß nicht. Übermorgen?“ Sie drehte ihren Kopf zu mir, wischte sich mit dem Handrücken eine Träne von der Wange.
„Alison, ich bin bei dir. Ich passe auf dich auf. Hab ich doch versprochen.“ Prüfend sah sie mir in die Augen, dann nickte sie langsam.
„Okay. Übermorgen.“
Ich gab ihr einen Kuss auf die Haare, und ließ sie dann los. Wenn auch sehr unwillig. Aber ich war irgendwie stolz auf sie. Und den Besuch bei meinen Eltern würde sie auch schaffen. Da war ich mir sicher.
Sie ging die drei Stufen hoch zu Tür, öffnete die Haustür, und drehte sich noch zu mir um.
„Gute Nacht, Dean.“
„Gute Nacht, Alison.“ Sie verschwand im Haus. Und ich sah ihr mit klopfendem Herzen und ihrem Geruch in der Nase hinterher.



©2012 by Hermine. Jegliche Wiedergabe, Vervielfaeltigung oder sonstige Nutzung, ganz oder teilweise, ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Autors unzulaessig und rechtswidrig.

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