Laufen
Ich sitze auf der Bettkante. Draußen dämmert es. Die Glieder sind mir schwer, wieder kein Schlaf. Mir geht’s nicht gut, mir geht’s schlecht, mir geht’s beschissen. Das war nicht immer so, wann hat das angefangen? Als sie wegging? Oder schon vorher?
Immer öfter erinnere ich mich nicht mehr, wo ich herkomme, weiß nicht, wo ich hin will, habe Gedächtnislücken. Mir scheint manchmal, dass ich Zeit verloren habe.
Noch schlimmer ist dieses Gefühl, etwas zerstören zu wollen, irgendetwas, irgendjemanden. Es lässt mich unruhig im Zimmer auf und ab gehen, bis der Druck so stark wird, dass ich laufen muss.
Wenn ich laufe, ist alles anders. Laufen tut mir gut. Ich verliere dann meine Depressionen, habe keine Angst mehr und spüre keine Aggressionen. Laufen setzt Glückshormone frei, lässt mich allen Scheißdreck vergessen. Danach fühle ich mich frei, als wenn es mir endlich gelungen ist, wegzulaufen.
7.00 Uhr. Los geht’s. Der rechte Schuh sitzt nicht mehr richtig. Ausgeleiert? Bräuchte mal wieder neue Laufschuhe. Sollte vielleicht Markenware kaufen, nicht den billigen Schund aus China. Dreimal die Woche mindestens 10 km, halten die nur kurze Zeit. Aber mit meiner bescheidenen Frührente kann ich keine großen Sprünge machen.
Direkt hinterm Haus die erste Steigung, Mist, habe auch schon mal besser gekeucht.
Nicht zu schnell, der Weg ist noch lang, ich komme oben an. 7 Minuten und 30 Sekunden sind vergangen, langsamer als an anderen Tagen. Ich muss schneller laufen. Ich spüre Wasser, das mir im Genick runterläuft, das Hemd klebt am Körper.
Der Weg geht jetzt durch Felder, klarer Himmel. Ich rieche die Erde. Warm werden wird es heute. Gestern hat es geregnet. Ich überquere die erste Brücke. 12 Minuten, nicht schlecht, laufe jetzt am Flussufer entlang bis zur nächsten Brücke.
Am Rande des Weges stehen Kilometersteine, alle 500 Meter einer. Zwischenziele.
Lockerer muss ich laufen, den Schritt aus der Hüfte auspendeln, öfter Zwischenspurts einlegen.
Am Stauwehr komme ich vorbei, höre das Rauschen des Wassers. Bierdosen und Holzstücke wirbeln im Strudel herum, verschwinden und tauchen wieder auf.
Nach 29 Minuten erreiche ich die zweite Brücke, laufe auf der anderen Seite des Flusses zurück. Die Hälfte habe ich geschafft.
Ein Typ kommt mir entgegen, unmöglicher Laufstil, krumme Beine, ein Wunder, dass der nicht hinfällt, aber er läuft wesentlich schneller als ich, ist auch viel jünger..
In meinem rechten Knie fängt es an, ein wenig zu ziehen. Meniskus? Hoffentlich hört das bald auf, vielleicht ist es ja auch eine Idiotie, in meinem Alter zu rennen.
Vielleicht sollte ich spazieren gehen und die Landschaft anschauen, vielleicht sollte ich jetzt aufhören zu joggen und mich auf die Bank da vorne setzen, vielleicht sollte ich nicht mehr weglaufen wollen.
Der Fluss führt ziemlich viel Wasser, gutes Fischwasser. Eine kleine Steigung, mein Knie ist wieder in Ordnung.
Dann sehe ich vor mir ein junges Mädchen, ich komme schnell näher, laufe hinter ihr. Sie hat einen prima Hintern. Und dann fängt es in meinem Kopf an zu dröhnen. Ich höre auch Stimmen. Jemand sagt etwas zu mir.
Nicht mehr weit bis zur ersten Brücke! Meine Beine werden langsam schwer, spätestens nach 45 Minuten sollte man etwas trinken, habe ich in einem Trainingslager gehört. Mein Puls ist höher als sonst.
Die Sonne kommt raus, ich laufe am Tennisplatz vorbei; Anna mit den roten Haaren, damals, Anna beim Tennis und im Bett.
Der letzte Anstieg beginnt, der Puls geht auf 170. Ich spüre Müdigkeit in meinen Beinen, mehr Sauerstoff brauche ich. Ich reiße den Mund auf.
Ich bin oben, 80 Minuten habe ich gebraucht, bin die Strecke schon in 59 Minuten gelaufen. War ich heute so langsam? Wo habe ich so viel Zeit verloren? Bin ziemlich fertig.
Ich gehe ruhig bis zum Haus. Als ich ankomme ist der Puls fast normal.
Ich setze mich auf die Bank im Garten, schließe die Augen, bin entspannt. Habe alles vergessen, was mich bedrückt.
Später gehe ich ins Haus.
Warum sind eigentlich meine Hosen so dreckig? Bin doch nicht gefallen.
Ich dusche mich. Im Spiegel sehe ich dann, dass mein Gesicht zerkratzt ist.
Am nächsten Morgen lese ich in der Zeitung, dass gestern wieder eine junge Frau am Fluss ermordet, wahrscheinlich auch vergewaltigt wurde. Etwa um die gleiche Uhrzeit, als ich da lang lief, muss irgendein Schwein sie umgebracht haben.
Von Jurewa
Am 13.11.2012 um 14:18 Uhr
Da stellt man sich einen Rentner vor, der dann als Frührentner beschrieben wird und am Ende ist er ein Mörder!
Was mich irritiert, ist, dass der Mann Depressionen hat und dann die Energie für einen Mord aufbringen soll. Das beißt sich irgendwie. Zumindest für mich. Die Absolvierung der Laufstrecke mit den einzelnen Phasen fand ich sehr gut beschrieben. Der Mord passt nicht so ganz, finde ich, ein anderes Ereignis mit etwas weniger Dramatik hätte es auch getan.
Lieben Gruß,
jurewa