PEACE
(inspiriert von Depeche Mode's "Peace")
von Michael Raith
Pralles Licht fällt durch die Gitter. Die Strahlen erhellen das triste Grau, aus dem die Zelle besteht. Sie scheinen dem Insassen ins Gesicht. Larsson sitzt auf der Kannte seiner Pritsche, das Gesicht mit Händen vor den Strahlen schützend. Er schließt die Augen und lässt die Wärme wirken. Das Gefühl der Sonne auf seiner Haut findet er so schön, dass er Gänsehaut bekommt. Jede einzelne seiner Poren nimmt die für ihn pure Glückseligkeit auf. Larsson fühlt sich lebendig. Er erhebt sich und geht zum Fenster, öffnet es und lässt seine Arme durch die Gitter baumeln. Die frische Luft, die er atmet, betört ihn. Sie streichelt sein Gesicht, streift durch die Haare auf seinem Arm, der wie ein gigantischer Urwald für sie sein muss, wie er denkt. Nun ist er nicht mehr im Gefängnis. Nun ist er irgendwo anders. Weit weg, wo es die Farbe Grau nicht gibt. Und keine Metallstäbe. Und keinen Beton.
Die Tränen stehen ihm nahe. Der Verurteilte sehnt sich nach der Freiheit, die er verspielte. Der Bunker raubt ihm alles. Hierbei geht es aber nicht um Materielles, sondern um wirklich persönliche Dinge. Sinnlichkeit. Leidenschaft. Lebensmut. Larsson sieht sich selbst als Löwe, der zuerst in der freien Wildbahn lebte und es liebte. Doch irgendwann hat irgendwer beschlossen, ihn einzusperren. Aber anstatt dem Löwen ein geborgenes Zuhause zu bieten, bricht man ihn. Man bricht seinen Stolz. Er ist nur noch ein Schatten seines Selbst. Eine leere Hülle, mit dem Wissen, dass die Freiheit irgendwo da draußen ist, man sie aber nicht sehen kann. Das Einzige, worauf man sich nur freut, ist der Kuh- oder Schweinsschenkel, den man ins Gehege geworfen bekommt, an dessen Knochen man nagen kann. Und die Hoffnung auf das Draußen bleibt trotzdem unerschütterlich.
Diesen Gedanken hegt Larrson wie einen Schatz. Er baut ihn immer wieder neu auf, gestaltet ihn anders. Trotz allem, findet er, ist der Löwe doch noch ein anmutiges Tier, das die tiefe, dunkle, innere Vereisung kaschiert. Und hin und wieder passiert es, dass das Tier ausbricht. Nicht aus dem Käfig, aber aus der Gewohnheit. Brüllt, fällt einen Wärter an, weil es die Freiheit riechen und schmecken kann. Aus Frust und Trotz greift es an, kann den Wärter aber nicht verletzen. Denn, wenn der Geist schwach ist, wird es der Körper ebenso. Das Einzige, womit Larsson seinen Geist stärkt ist große Literatur. Hesse, Dostojewski, Schiller, Goethe. Aber genau das wurde ihm auch zum Verhängnis. Er war schon immer schlau gewesen und interessiert an allem, was wirklich von Belang ist. Aber nachdem er von seiner Frau mehrmals betrogen wurde, flippte er aus. Er plante seine Rache, den Mord, bis aufs kleinste Detail, dokumentierte sogar alles. In Sachen Planung ist Larsson sorgfältig. Zunächst verschaffte er sich ein Alibi, in dem er angeblich nach Los Angeles flog, um seine Firma zu vertreten, was auch noch stimmte, und zudem noch einen kurzen Urlaub dort machte, auch um von allem abzuschalten, auch von der Ehe. Doch dieser Erholaufenthalt fand nie statt. Er flog zurück, hielt seine Frau für diese drei Tage gefangen und da setzte er seinen Plan in die Tat um. Er fesselte und knebelte sie und da kam zu erst sein Jähzorn in ihm hoch. Fäuste prasselten nur so auf seine Frau. Nachdem er sich dann beruhigt hatte, ging er weiter vor nach Plan. Ein Programm aus Grausamkeiten. Sanfte Schnitte mit Rasierklingen, bei denen er hören konnte, wie sich das Fleisch auftat. Die Schnittwunden desinfizierte er zum einen mit Jod, zum anderen mit einem glühenden Draht. Und jedes Mal, wenn Larsson seiner Frau in die verheulten Augen sah, die untermalt waren, mit verflossenem Eyeliner, spürte er nichts. Für ihn war die Person vor ihm kein Mensch mehr, sondern irgendeine sozial abgeschobene Abart der Natur. Wie eine Ratte. Die ficken auch ununterbrochen herum und vermehren sich unaufhörlich.
Irgendwann starb sie auch vor Schmerzen. Dann nahm Larsson seine Axt und hackte der Leiche erst den Kopf ab, den er an den Haaren hochzog und sich noch einmal genau betrachtete. Dann zerhackte er den Rest des Körpers, um ihn an verschiedenen Orten zu begraben. Dem folgte die gründliche Reinigung und Beseitigung von Beweismitteln. Nach den drei Alibitagen und noch einem Tag zusätzlich, meldete er seine Frau dann letztlich für Vermisst. Er gestand auch, dass sie Eheprobleme hätten, dass sie ihn betrogen hatte, doch dass sie gemeinsam auf dem Weg waren alles zu vergessen, da sie sich liebten. Er schauspielerte sehr überzeugend. Die Tränen, das Gewimmer, der Tonfall und die Mimiken. Die Academy hätte ihn hoch gekürt. Die Polizei fahndete nach der vermissten Frau, natürlich ohne Ergebnis. Sie sei mit irgendwem ausgebüchst, durchgebrannt, für immer weg, hieß es nach einer vergeblichen Zweiwochensuche. Nur wurde kurze Zeit später eines der Körperteile gefunden. Der rechte Arm. Unter einem der Fingernägel waren noch Hautreste von ihm. Sie hatte ihn im Laufe der Folterung am Oberarm gekratzt. Genau diese Hautzellen überführten ihn. Und aufgrund der sorgfältigen Planung und der Skrupellosigkeit, wie er den Mord ausführte, wurde er zu zwanzig Jahren haft, ohne Chance auf Bewährung, in diesem Hochsicherheitsgefängnis verurteilt. Beim Urteil blieb sein Ausdruck leer.
Jetzt weiß er allerdings, was er aufs Spiel setzte, was er zuvor nicht wusste. Er dachte zwar, dass er ein perfektes Verbrechen geschaffen hätte, aber er wusste nicht, dass er sogar etwas sehr wichtiges zu verlieren hatte. Freiheit ist eben ein Privileg des Menschen. Ein gottgegebenes Geschenk, wenn man so will. Den Mord an sich, bereut Larsson jedoch bis heute nicht. Die miese Schlampe hat das bekommen, was sie verdiente, denkt er. Er braucht seine Meinung aber auch nicht zu ändern. Immerhin hat er keine Aussichten auf eine Resozialisierungsanhörung.
Hinter Larsson fällt ein Schlüssel ins Schloss. Das Metall, das gegeneinander drückt, scheppert laut, hallt durch den ganzen Distrikt. Der Gefangene erwacht aus seinem Traum und dreht den Kopf, ein Auge schielt zum Wärter. Es wäre Zeit für den Nachmittagssparziergang, meint er, das schöne Wetter solle ausgenutzt werden. Larsson werden Handschellen angelegt und er wird nach draußen geführt, wo ihm die Handschellen wieder abgenommen werden. Eigentlich wäre das alles unnötig, denn Larsson wird nie irgendwie ausfällig. Die wenigen Male, die er es wurde, waren gerechtfertigt, auf jeden Fall so, wie er es den Wärtern erzählte, und wurde nicht weiter mit Strafen verfolgt. Oder vielleicht liegt es an seiner Wortgewandtheit und Schlagfertigkeit, dass er für die Schlägereien nicht bestraft wurde. Letzten Endes weiß das nur Larsson alleine.
Draußen angekommen nimmt Häftling 17 C, Larssons Zuordnungs- und Zellennummer, eine Lunge von der frischen Luft. Er breitet die Arme aus und beginnt zu grinsen. Der Wärter steht nur da und betrachtet sich dieses Szenario. Er betrachtet es immer und immer wieder, da er Larsson jeden Mittwoch und Samstag zum Ausgang begleiten muss. Heute ist Mittwoch. Das ist schon seit drei Jahren so, doch bislang haben die beiden sich noch nicht miteinander unterhalten. Larssons erster Eindruck von ihm war auch nicht positiv. Er war noch ein Jungspund, vielleicht dreiundzwanzig, und sehr grün hinter den Ohren. Was konnte der schon an Lebenserfahrung vorweisen? Außerdem mochte er diesen trägen Blick von Langeweile an ihm nicht. Und der Wärter hielt aus Sicherheitsgründen Abstand, da er die Akte von ihm kennt und im Inneren auch Angst vor dem Jähzorn dieses Menschen hatte.
Doch heute ist es anders. Irgendetwas liegt in der Luft. Wahrscheinlich liegt es am Frühling, der kommt und den man riechen kann.
„Ein herrlicher Tag heute, nicht“, fragt Larsson das Aufsichtspersonal.
„Kann man wohl sagen. Ich habe mich schon die ganze Zeit darauf gefreut.“
„Wie heißt du, Kleiner?“
„Christian.“
„Ich heiße…“
„Larsson, ich weiß“, unterbricht Christian ihn.
„Ich weiß, dass du meine Akte kennst. Aber es ist doch schöner, wenn man sich persönlich vorstellt, oder meinst du nicht?“ Leicht gereizt, aber noch freundlich sagt das Larsson zu dem Jungen.
Leicht verängstigt kommt es von Christian, dass Larsson recht habe und es ihm leid täte. Häftling 17 C bemerkt die Angst in der Stimme des Jungen, kann sie aber nicht verstehen. Immerhin ist er es, der Schlagstock, Pfefferspray und eine Waffe bei sich hätte.
„Warum machst du das hier überhaupt?“
„Bitte?“
„Das Geld kann es nicht sein. Die Aussicht, dass man jemanden sieht, der sich vollkommen resozialisiert ist hier auch eher unwahrscheinlich. Gefahrenaussetzung? Ist es das? Bist du ein Adrenalinjunkie?“ Der letzte Gedanke kommt Larsson natürlich selbst lächerlich vor.
„Nein, ich weiß es nicht so genau. Irgendwie betrachte ich es als Sprungbrett.“
„Sprungbrett, wofür?“ Skepsis macht sich in Larssons rauchiger Stimme bemerkbar.
„Die SEK vielleicht.“
Larsson fängt an zu lachen. Er findet es richtig bezaubernd, wie naiv er nach drei Jahren doch noch ist. Aber ohne ihn irgendwie verletzen zu wollen, sagt er, dass Christian ruhig seinen Traum verfolgen solle. Die beiden halten inne. Der Lärm der Straße klingt für den Gefangenen mittlerweile wie das Rauschen des Meeres. Es vermischt sich mit Vogelgezwitscher. Larsson genießt diesen Augenblick. Er hält ihn fest. Noch zehn Minuten, dann muss er wieder in seine Zelle 17 C zurück.
Larsson wiederholt das Szenario von vorhin, beim betreten des Hofes. Tief durchatmen. Arme entfalten. Die Augen schließen und den Kopf zum Himmel recken. Dies lässt ihn wie ein Prediger erscheinen, der alles und jeden um sich herum segnet. Der auf die Erlösung Gottes wartet. Der sich durch den Herrn göttliche Kraft verleihen lässt, um großes zu vollziehen. Um einen Krieg zu gewinnen. Oder um ganz einfach für ein späteres Leben im Himmel zu bitten, trotz allem, was passiert ist. Aber Larsson ist der Platz im Jenseits nicht so wichtig. Lieber würde er wie einer dieser zwitschernden Vögel davon fliegen. Irgendwo hin, wo es schön ist. Vor Freude würde er seine Fähigkeit zu fliegen voll und ganz ausnutzen. Irrsinnige Flugmanöver. Loopings. Sturzflüge. Wenn er die Kraft dazu hätte, würde er bis nach London fliegen und vom Big Ben kacken. Und dann weiter nach New York und vom Empire State Building einen Sturzflug und kurz vor dem Aufprall die Flügel ausbreiten und irgendeinem Passanten seine Mütze klauen, aus der er sich ein Nest baut. „Wenn ich jetzt allerdings sterben würde“, denkt sich der Träumer, „und als Vogel wieder kommen würde, würde ich mich dann überhaupt erinnern, ein Mensch gewesen zu sein? Würde ich wissen, was ich an der Freiheit habe?“ Normalerweise weiß er auf jede Frage auch eine Antwort, doch auf diese hier nicht. Er kann nicht beeinflussen, was nach dem Tod sein wird. Er schaut zu Christian hinüber.
„Alles in Ordnung“, fragt der Jüngling.
„Die Welt da draußen, die fehlt mir.“
„Wie lange musst du noch absitzen?“
„Noch fünfzehn Jahre. Aber an die Mauern werde ich mich wahrscheinlich nie gewöhnen. Ich dachte, du hättest meine Akte gelesen?“
„Ich wollte es von dir hören“, zwinkert der Junge. „Ich weiß natürlich auch, dass du nicht die Möglichkeit auf Bewährung hast…“ Die Stimme ebbt weg.
„Ja, aber?“ Der alte Vierziger neugierig.
„Aber, ich denke jetzt nicht, dass du wirklich so gefährlich bist. Ja, okay, das, was du deiner Frau angetan hast, war fürchterlich und grausam, aber das Urteil war vielleicht auch ein wenig zu hart. Ich rede mal mit den Vorgesetzten, vielleicht lässt sich ja in ein paar Jahren etwas drehen.“
Der freiheitsliebende Mörder ist sichtlich gerührt. Für ihn würde somit ein Traum in Erfüllung gehen. Zwar ist der Weg, sich neu in der Gesellschaft zu verankern schwer, doch das würde er nur zu gerne auf sich nehmen. Er würde es allen zeigen. Das Erste, was er machen würde ist, sich eine wunderschöne Blume kaufen, an ihr stundenlang zu riechen und sie irgendwann der hübschesten Frau zu schenken, die ihm an dem Entlassungstag begegnet. Er würde sie dann auch zum Essen ausführen und umgarnen. Er würde sie verwöhnen. Und natürlich am Ende des ganzen ihre triefend feuchte Muschi schmecken. Er würde sie ficken, wie er noch nie zuvor eine Frau gefickt hat. Die jahrelange Zeit der Masturbation unter der Decke und der feuchten Träume, wäre somit ein für alle mal vorbei. Vielleicht wäre die Frau dann auch so von ihm begeistert, dass sie heiraten und Kinder bekommen würden. Das wäre Larssons perfekter Tag. Entlassung. Blume. Eine Frau. Ficken. Die Freiheit kommt automatisch. Die Resozialisierung auch, mit Ehefrau, einem Haus, einem Kind. Einem grünen Garten, der jährlich in voller Pracht wächst, eingefasst in einem weißgestrichenen Lattenzaun. Nachbarn, die einem freundlich zuwinken, wenn sie einen sehen. Dessen Sohn oder Tochter würde auch öfters herüber kommen, um mit seinem Kind zu spielen. Vielleicht, denkt sich Larsson, würde er sich dann auch einen Hund zulegen. Einen richtig typischen Familienhund, wie einen Golden Redriver, dem er einen amerikanischen Namen geben würde, wie Clover. Oder, wenn es ein Weibchen wäre: Pancake. Das Glück wäre perfekt.
Noch sieben Minuten Ausgang. Sieben Minuten von einem illusionären Freiheitsgefühl. Man braucht schon eine Menge Phantasie, um es sich vorstellen zu können. Larsson hat diese. Seine Phantasie ist der einzige Halt, den er noch im Leben finden könne, sagt er sich oft selbst. Andernfalls hätte er sich schon längst in seiner Zelle erhängt. Seine Phantasie birgt Hoffnung in sich. Hoffnung, dass sein Fall noch einmal überarbeitet wird. Hoffnung darauf, dass er von einem Psychologen untersucht wird, der ihn nicht gleich als gemeingefährlich betrachtet. Hoffnung darauf, bald nach draußen zu gelangen.
Christian begreift so einiges nicht. Wieso die Justiz immer noch dermaßen versteift ist und diesen Mann, der jeden Mittwoch und Freitag vor seinen Augen im Hof einfach die Hände ausbreitet und sich daran erfreut, die frische Luft zu atmen, wie ein Tier wegsperrt. Larsson wäre für Christian das Idealbeispiel für den Resozialisierungszweck des Gefängnisses. Er ist relativ ruhig, lenkt das Aufsehen selten auf sich, provoziert nicht. Christian denkt sich, er wäre gerne dabei, wenn es zu einer Anhörung kommen würde und, wenn er dann frei gelassen werden würde. Das würde er wirklich nur all zu gerne. Auch, wenn er Larsson nicht kennt und heute das erste Mal mit ihm gesprochen hat, ein Sympathiegefühl ist definitiv vorhanden. Das Gefühl hatte er aber auch schon allmählich aufgebaut, nachdem er immer und immer wieder gesehen hat, wie Larsson unbeschwert im Hof tänzelt. Einen solchen Sträfling hatte Christian noch nie gesehen. In dem ganzen Hochsicherheitstrakt gibt es auch keinen anderen, der so ist wie er. Die anderen sind gewöhnlich. Aufrührerisch, neckisch, provozierend, vorlaut. Sie vergreifen sich an anderen und führen ordinäre Gespräche. Doch den Insassen aus 17 C, lassen sie mittlerweile alle in Frieden. Es gab Zwischenfälle, doch die sind nicht weiter von großer Relevanz. Jetzt ist 17 C einfach nur ein Geist. Ein Zimmer, das besetzt ist, doch niemand schert sich weiter darum. Er liest seine Bücher und die anderen haben es akzeptiert. Das ist unser Geist aus Zelle 17 C.
Noch drei Minuten. Larsson weiß, dass sich die Zeit dem Ende nähert. Er weiß jetzt nach 5 Jahren genau, wie sich zehn Minuten anfühlen. Oft vergehen sie viel zu schnell. Manchmal aber auch so langsam, dass er denkt, die Zeit stehe still. Heute vergeht sie nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam. Heute sind es einfach nur die zehn Minuten. Es liegt mit Sicherheit an dem, was in der Luft liegt, was immer es auch sein mag.
Christian macht den Häftling auf die drei Minuten aufmerksam. Der wiederum entgegnet, dass er bescheid wisse. Larsson sieht sich um. Alles ist leer. Niemand ist hier, nicht einmal eine andere Wache. Er liebt diese Entspannung. Und die Illusion. Er geht zu Christian und reicht ihm lächelnd die Hand.
Christian reicht ihm ebenfalls die Hand und sagt: „Bitteschön. Gern geschehen.“
Larssons Miene versteinert. Christian ist irritiert, fragt was los sei. In dem Moment patscht Larssons Faust in sein Gesicht. Der Hieb fühlt sich an, als würde ein Profiboxer zuschlagen. Mit einem schnellen Handgriff entwendet Larsson dem Jüngling die Kanone. Christian fällt zu Boden. Mit der Waffe bedrohend, fordert Larsson den Schlagstock und das Pfefferspray von Christian. Er gibt es ihm bedingungslos. Sein Herz rast dabei am Stück, hört nicht mehr auf zu Pochen. Der Angstschweiß will auch nicht mehr aussetzen. Die Waffe entsichert Häftling 17 C fachgerecht, wirft sie weit weg. Den Schlagstock ebenso. Er schlägt auf Christian noch einige Male ein, dann setzt er sich auf ihn, klammert mit den Knien dessen Arme fest und fängt an, das Pfefferspray auf Christian zu sprühen. Das Gesicht des Opfers wird feuerrot. Er schreit am Stück, doch niemand kommt. Christian ist dem Psychopaten ausgeliefert. Das Spray gerät in seinen Mund. Gerät in seine Atemwege und in die Speiseröhre. Er kann nicht mehr schreien, hat Probleme Luft zu bekommen. Larsson sieht die sich windende Gestalt vor sich, während er sprüht. Er beisst die Zähne zusammen und denkt, wie jämmerlich er doch ist und sprüht weiter. Er sprüht und sprüht und sprüht. Niemand kommt, niemand bemerkt es. Er sprüht. Das Gesicht von Christian ist schon dermaßen aufgequollen, dass es kaum wiederzuerkennen ist. Er sieht jetzt aus, wie ein fetter, rotköpfiger Achtunddreißigjähriger. Larsson neigt seinen Kopf, sieht ihn an und würde gerne wissen, was wohl gerade in Christians Kopf vorgeht. Fragt er sich, warum er ausgerechnet mir hat vertrauen schenken müssen? Oder weiß er, dass seine Zeit jetzt gekommen ist? Was denkt sich der Junge nur, denkt der Mörder und sprüht weiter, bis der Inhalt vollkommen verbraucht ist. Dann schlägt er mit dem Döschen auf den Kopf des Opfers ein, was sich aber schnell in eine Faust verwandelt. Die Schläge hören gar nicht mehr auf. Larsson ist der Raserei vollkommen verfallen. Er hat seinem Opfer bereits das Jochbein, die Nase und den Kiefer gebrochen. Den Schläfenlappen geprellt. Die Knöchel tun Larsson allmählich weh. Er nimmt den Kopf des Jungen und schlägt ihn ein paar Mal gegen den gepflasterten Boden. Er merkt schon, dass der Schädel immer breiiger wird. Blut tritt auch in Strömen aus dem Hinterkopf aus. Doch Larsson bekommt nicht genug. Er ist in Ekstase, richtet sich auf und tritt oftmals gegen den Brustkorb des bereits Toten.
Irgendwann ziehen ihn drei Wärter weg und verprügeln ihn mit Schlagstöcken, sprühen ihm Pfefferspray ins Gesicht. Sie würden am liebsten gar nicht mehr aufhören ihn zu schlagen und ihm das Gleiche antun, was er Christian angetan hat. Doch dann wären sie keinen Deut besser. Sie zerren ihn weg, schleifen den Grün- und Blaugeprügelten weg. Das Pfefferspray brennt ihn in den Augen. Doch er blickt noch einmal mit dem Auge, das nicht zugeschwollen ist, zu Christian. Wie er da so daliegt, denkt er sich, herrlich. Ein Akt der Zerstörung. Ein Akt von purer Gewalt und auch Anarchie. Anarchie verkörpert die pure, chaotische Freiheit. Larsson lacht bei dem Gedanken, dass er einer Autoritätsfigur, die dachte, die Kontrolle zu haben, das Licht ausgeblasen zu haben. Dabei bekommt er noch einen Schlag mit dem Gummiknüppel in seinen Solarplexus, doch er kann nicht aufhören zu lachen. Christian, dieser naive Wichser, denkt er. Aber hier ging es nie um Mord. Er mochte Christian wirklich. Er war immerhin ein junger, aufstiegsgeiler Typ gewesen. Er war nur am falschen Ort, zur falschen Zeit, zu einer völlig ungünstigen Gemütsstimmung von Larsson. Hier ging es um Freiheit. Um das totale Gefühl von Freiheit. Um einen Ausbruch aus dem Käfig der Gewohnheit. Larsson mutierte zum Löwen, der ausbrechen wollte und aus Frust und Trotz tötete. Dieses Mal war er wirklich zu einem Tier geworden. Er schmeckte Blut. Nun fühlt er sich stark. Stolz. Autoritär. Mächtig. Erhaben. Und, vor allem, frei. Das Urteil lautet lebenslänglich.