Der Gackerer
„Gestern am späten Nachmittag kamen Oblomow und der Gackerer hierher“, fing Dr. Ritzler an.
„Mal langsam, wer ist Oblomow, wer der Gackerer ?“, fragte Kommissar Leberecht.
„Eigentlich heißt der Oblomow Michael Seltenreich, wie er sagte. Alle in der WG nennen ihn aber Oblomow, weil er immer so lange im Bett liegt. Er meinte, ich solle ihn auch so nennen. Der brachte also seinen Freund, Hansi Kistner, den Gackerer hierher.“
Dr. Ritzler fuchtelte mit den Armen herum, stand immer wieder auf und setzte sich dann wieder. Seine Haare standen hoch, sein Gesicht war rot.
Der Kommissar zog einen Schreibblock heraus und sagte:
„Sie riefen wegen einer Vermisstenanzeige an, verstehe nicht, was das, was Sie mir da berichten, damit zu tun hat.“
„Der Seltenreich erzählte mir, dass sein Freund Hansi sich seit heute Morgen etwas merkwürdig benehme. Gegen 11:00 Uhr habe ihn ein fürchterliches Gegacker aus dem Schlaf gerissen. Er stehe sonst immer erst gegen 13:00 Uhr auf...“
„Was für ein Gegacker?“
„Als er aus dem Schlafzimmer gekommen sei, habe sein Freund auf dem Küchentisch gekauert und ununterbrochen gegackert. Auf Fragen seinerseits habe er überhaupt nicht reagiert, ganz im Gegenteil, er habe auch noch angefangen zu krähen.“
„Ja, was hat das Ganze jetzt mit Ihrer Vermisstenanzeige zu tun?“
„Warten Sie ab, lassen Sie mich der Reihe nach erzählen. Ich habe dann den Oblomow, ich meine den Seltenreich, gefragt, ob sein Freund Hansi sich schon mal vorher auffällig benommen habe. Eigentlich nicht, habe der gemeint. Nur einmal hätte er eine Frau vergewaltigen wollen, aber das sei schon längere Zeit her.“
„Sagen Sie mal, dreht es sich jetzt hier etwa um eine Anzeige wegen Vergewaltigung?“
„Nein! Ich habe zu Oblomow gesagt, er könne seinen Freund mal ein paar Tage hier lassen, sozusagen zur Beobachtung. Dann werde man weiter sehen. Eine ausführlichere Unterhaltung ist auch nicht möglich gewesen, weil der Hansi Kistner immer wieder dazwischen gegackert und gekräht hat.
Wenn ich vorher gewusst hätte, welche Schwierigkeiten unserer Klinik entstehen könnten, hätte ich die beiden ja gleich wieder fort geschickt.“
„Was für Schwierigkeiten?“
„Na ja, da sind zwei Patienten verschwunden!“
Dr. Ritzler wischte sich den Schweiß von der Stirn, Kommissar Leberecht hielt etwas hilflos seinen Block in der Hand.
„Ich lasse mal den Herrn Rinderle kommen, der ist fast geheilt und wird Ihnen weiter berichten. Der wird demnächst entlassen.“
Ritzler nahm das Telefon ab und sagte seiner Sekretärin, sie sollten ihm den Rinderle schicken.
Kurze Zeit später flog die Bürotür auf und ein Koloss stürzte herein. Den Kommissar beachtete er kaum, ging zu Dr. Ritzler, gab ihm die Hand und machte eine tiefe Verbeugung.
„Nun Herr Rinderle, erzählen Sie mal dem Kommissar, was da gestern Abend passiert ist.“
Rinderle versuchte sich zu konzentrieren, sein Gesicht verzerrte sich. Er knetete seine riesigen Hände.
„Also ich habe dann geholfen, den Dr. Busch ins Bett zu bringen.“
Der Kommissar unterbrach ihn unwirsch: „Wer ist jetzt Doktor .Busch?“
„Doktor Busch ist ein junger Arzt, der gerade hier angefangen hat. Er will bei uns ein Praktikum machen“, erklärte Dr. Ritzler.
„ Aber Herr Rinderle, sie müssen von Anfang an erzählen, als der Gackerer bei Ihnen im Schlafsaal ankam.“
„Ja also, der Gackerer kam rein, gackerte und krähte, wir haben alle gestaunt. Ein Pfleger zeigte ihm sein Bett und ging dann wieder. Dann sah er den Karle. Die beiden umarmten sich, der Karle heulte.“
„Der Karl Mümpfinger wurde zwangsweise eingeliefert, sollte hier beobachtet werden. Er hat an einem Bankeinbruch teilgenommen, behauptet, sich an nichts erinnern zu können“, sagte Dr.Ritzler.
„Dann fiel der Doktor Busch plötzlich um“, erzählte Rinderle weiter, „hatte das Bewusstsein verloren. Der Gackerer sagte, dass es sich um einen Kälteschock handle. Er und der Karle zogen dem Doktor seinen weißen Kittel aus, wir anderen schauten zu.“
Rinderle machte eine Pause, konnte wohl seine Erinnerungen nicht richtig einordnen.
„Wie ging es dann weiter?“ fragte Dr. Ritzer.
„Also dann wickelten sie ihn ziemlich fest in das Leinenlaken von Karls Bett ein und steckten ihm auch noch einen Teil von einem Nachthemd in den Mund. Kalte Luft könne die Lungen kaputt machen, sagte der Karle.
Die Bettdecke zerrissen sie und schnürten den Doktor gut ein. Wegen der Kälte.
Ich half dann den Doktor ins Bett zu bringen, und er fing fürchterlich an zu stöhnen, und wir deckten ihn dann noch mit anderen Decken zu.“
„Ja und dann?“, fragte der Kommissar.
„Der Gackerer hat dann nicht mehr gegackert. Er zog sich den Arztkittel an. Er machte mit dem Schlüssel vom Doktor die Tür auf und verschwand mit dem Karle. Die Tür hat er aber wieder abgeschlossen. Wir sind dann alle ins Bett gegangen, es war ja schon dunkel.“
„Und was ist mit dem Dr. Busch? “, fragte der Kommissar.
„Den haben wir dann morgens gefunden, der hat jetzt einen Nervenschock!“, sagte Dr. Ritzler. „Ich hatte gedacht, er sei nach Hause gegangen.“
„Und die beiden?“
„Die haben sich aus der Klinik entfernt, darum habe ich ja angerufen.“
„Ich verstehe nicht ganz, wie kamen die denn am Hausmeister vorbei?“
„Der Steinbeißer ist nicht gerade der Hellste, wird jetzt bald pensioniert. Er sagte mir, dass ein Arzt mit dem Karl Mümpfinger an ihm vorbei gekommen sei. Der habe ihm gesagt, dass der Patient unbedingt frische Luft brauche, er würde mit ihm einen kleinen Spaziergang machen. Den Namen des Arztes könne er nicht angeben. Er kenne ja nicht alle Ärzte hier, immer wieder gebe es Wechsel. Er habe die Haustür aufgeschlossen, und die beiden seien dann in der Dunkelheit verschwunden. Wiedergekommen seien sie nicht. Dann sei ja auch der Nachtdienst eingetroffen.“