Früher Morgen im Wald. Schwer sammelte sich kühl und feucht Luft in Nebelschwaden und schwebte zwischen dunkelgraue und braune Baumstämme über tiefgrünen Farn. Satte Baumkronen spendeten Nachtschwärze, während ostwärts rote Sonne ihre Flut in den Wald goss. Darin mit hundertdreißiger Puls und lautem Atem zwei Liebende, deren Gemeinsamkeit Unterschiede waren. Nicht nur Äußeres, sondern auch das Innere konnte nicht abweichender sein. Die Frau hatte rot gefärbtes Haar, braune Augen, schlanke Gliedmaßen und deutliche, gut gewachsene, weibliche Formen. Xenias Mutter war Mexikanerin und vererbte neben Augen, Nase und vollen Lippen, auch flammendes Temperament und eine Spiritualität, deren Unbändigkeit Feuer ebenbürtig war. Ihr Vater Salomo trug seinen Namen zu Recht. Sein Samen übertrug in der Nacht vor fünfundzwanzig Jahren Weisheit. Ebenso bewiesen schwäbische Tugenden emigrierter Vorfahren genetische Dominanz: Fleiß und Sparsamkeit. Salomo entstammte einer alten Familie, die immer behauptete direkt aus Moses Volk zu stammen. Das erschien mit jedem Mondlauf um die Erde zunehmend als Legende. Tatsächlich blieb die historische Herkunft unbewiesen. Eine eigenwillige, familiäre Situation und die Gott, sowie einigen mexikanischen Heiligen und ihren vorchristlichen Götterbrüdern gewidmete Erziehung führten Xenia zu ihrer Berufung. Sie verdiente sich und ihren aufwendigen Lebensstil als Prophetin.
Ihr geliebter, vierzehn Jahre älterer Mann war hoch gewachsen, hatte eine maskuline Erscheinung und war blond. Er war tätig in einem wissenschaftlichen Militärprojekt. Geheimsache versteht sich von selbst. Sein Interesse an Xenia war ehrlich, seine Liebe grenzenlos. Paul heiratete Xenia umgehend. Mit Blumen hatte er sie überrascht, gefragt und gewonnen. Anschließend gab es Tango und Tequila und eine liebevolle Nacht. Seine Mutter war die Leiterin des Jungengymnasiums, das er mit überdurchschnittlichen Noten verließ. Sein Vater war Mathematiker. Wie dieser begann Paul seine Offizierslaufbahn bei der Luftwaffe, studierte in München Mathematik und verpflichtete sich später drei Jahre in El Paso, Texas zu bleiben. Dort lernte er Xenia kennen und lieben. Diese Liebe verwehrte ihm die Aufnahme in erstrangige Militärkreise. Xenia bedeutete ihm mehr. Dissonanzen meidend, wechselte er in die Forschung, die ihm mehr Freiheit als Kodierungen und Politik zubilligte. Hatte Xenia ihn verzaubert? In seiner Familie, gab es den Erzählungen, die stets der Logik folgten, nur eine starke Kraft: Liebe. Ihre hormonellen Auswüchse verknoteten die Lebensgerade in kunstvolle Gebilde. Verständnisvoll wurde über den Bruch seiner Karriere hinweggeblickt. Die Familientradition bestätigte die Unmöglichkeit einer neuen Spielart, die in Präsidentschaft hätte enden können.
Xenia und Paul standen voreinander. Ihre Herzen schlugen schnell. Mit Händen auf den Kniescheiben ihrer gespreizten Beine stützten sie ihre vornüber gebeugten Körper und sahen sich, ihre Köpfe waren nach hinten gelegt, ins Gesicht. Zwischen ihnen kondensierte Atemluft. Ihr morgendliches Training war beendet.
„Müssen wir wirklich dahin?“, fragte Paul. Xenia lächelte ihn an und dachte:„ Du Drückeberger.“ Sie nickte. „Für mich“, hauchte ihr Blick ihm zu. Aus ihrem halbgeöffneten Mund drang neue Körperwärme. Doch Paul zeigte sich unnachgiebig: „Wirklich?“ Böse Saat nährte Ungeduld. Jetzt fing er wieder damit an. Xenia wollte nicht mehr darüber sprechen. Sie hatten es schon ausdiskutiert. Xenia war es wichtig, das er etwas von dieser Spiritualität mitnahm. Worte kamen ihr in Erinnerung:
„Kein Hokuspokus?“
„Nein, keiner! Prüf es nach: Michael Persinger, Laurentian University, Kanada. Forschung seit Ende des 20. Jahrhunderts. Der Helm induziert Gefühl durch Magnetismus. Gotteserfahrungen werden für jeden möglich.“
Ein anderer Gesprächsfetzen reihte sich in ihre Gedanken:
„Religiöse interpretieren die Erfahrung als Gotteserfahrung. Spirituelle erleben Transzendenz. Atheisten und unspirituelle deuten die Erfahrung, als Form eines fremden Egos. Aber die Gesamtheit der Erfahrung ist ähnlich. Du kannst daran teilhaben, was ich empfinde, wenn ich Visionen erlebe.“
„Warum soll ich daran teilhaben?“
„Du lernst mich besser kennen.“
über Wochen kehrten die Gespräche wieder. Xenia lockte ihm mit dem Spaß gefühlter, scheinrealer Erlebniswelten, die durch Filme gesteuert wurden und zu köstlichen, sensitiven Erfahrungen führten. Irgendwann gab er nach. Ihm fehlten Argumente, die sein Sträuben erklärten. Xenia vermutete innere Angst, die Paul davor bewahren wollte, die echte Welt mit der aus der Maschine zu vermischen. Eine sehr existenzielle Angst. Natürlich taten das Zeitung, Radio, Fernsehen und Internet auch. Doch sie waren nie so direkt. Das schwerste und überzeugendste Argument war eine andere Maschine, mit der Xenia ihn freudig überraschte. Starkes Kribbeln, Vibration, Erektion. Der Vibrator erzeugte elektrisch Gefühle. Tiefgreifende.
Es fiel Xenia schwer, sich Pauls neuen Zweifeln, schließlich galt die Sache als beschlossen, freundlich zuzuwenden. Sie hatte keine andere Wahl. Ihr Ziel war so nah. Ungeduld würde zu neuem Streit führen. Sie unterdrückte trauriges Zucken am Mundwinkel. Es kostete sie überwindung, doch sie lächelte ihn erneut an und sagte bestimmt, aber liebenswürdig: „Ja.“ –„Na gut“, antwortete Paul. Dieses „Ja“ weckte in ihm die Gewissheit, dass jedes weitere Wort langwierige, unangenehme Folgen hätte.
Paul und Xenia gingen zum Auto, stiegen ein und fuhren verschwitzt ins „Tor zum Herzen“. Dort duschten sie und wechselten ihre Kleidung. Nach dem Frühstück, dessen Gemütlichkeit mit dem Erscheinen einer lauten Feriengruppe schwand, ruhten die Eheleute im Raum der Stille. Wenige Minutenstriche vor Zehn ging das Paar in die erste Etage. Paul wurde, denn er kam das erste Mal, eingewiesen. Im Vorfeld waren der übliche neuro-psychologische Test ausgewertet, Einverständnisse unterschrieben und ausführliche Erklärungen gegeben worden. Deshalb blieb diese Einweisung kurz. Sie diente primär der Beantwortung letzter Fragen. Das Paar betrat das Zimmer. Zwölf Menschen lagen dort entspannt in altmodisch geformten, aber durchaus bequemen Zahnarztstühlen.
Zahnarztstühle verursachen Konflikte. Der mir Bekannteste liegt zwischen der Angst vor Behandlungsschmerz und dem Zahnschmerz, der dich zum Sitzen bewegt. Im „Tor zum Herzen“ lösten die Stühle eine andere Lawine aus:
Tech-Visioneers waren im Mitmachhaus nur durch den Eintrag im Raumverteilungsplan bekannt. Neugierige wurden schnell von Drähten, Elektroschrott und Lötkolben, die zwischen herumwirbelnder Fachsprache durchgereicht wurden, abgeschreckt. Die Tech-Visioneers waren Freaks. Mangelndes Fremdinteresse, und damit verbundene Störungen durch Personalwechsel, sowie zeitraubende neue Erläuterungen und Lernschritte, förderten den Gestaltungsfluss, der für mehrjährige Tests Voraussetzung war.
Doch eines Tages sah Sibyl auf der Strasse alte, hässlich-graue Zahnarztstühle. „Wahnsinn!“, dachte sie und beschloss ihre Rettung. Sie rief die anderen Tech-Visioneers hinzu und transportierte mit ihren Freunden die Stühle ins Mitmachhaus. Die Gefühlsreisenden waren begeistert. Die Zeit harter Fußböden war beendet.
Nur, darüber waren sich alle einig, müssten die Stühle schöner werden. Die Elektrotüftler schneiderten mit der Nähgruppe, die sich dienstags im „Tor zum Herzen“ traf, aus alten Stoffresten futuristische Bezüge. Nach verrichteter Arbeit, erkannten die Gefühlsreisenden den Vorzug der Stühle: Bequemlichkeit. Doch Vorteile bringen auch Nachteile. Die Sitze waren schwer und brauchten viel Platz. Deshalb wandte sich die Gruppe an die Gemeinschaft. Sie ersuchten die Erlaubnis, die Stühle in einem Seminarraum fest zu installieren. Diese Raumnutzung konnten nur alle Mitglieder gemeinsam entscheiden.
Unterschiedliche Anwendungen und aufzudeckenden Potentiale, dieser veralteten Technik des zwanzigsten Jahrhunderts reichten, aus, um Mitglieder, Mitgliederrat und Ältestenrat zu gewinnen. Unaufhaltsam führte diese Entscheidung in den Prozess, der zunehmend Geister schied.
Natürlich stimmten nicht alle dafür, einen Seminarraum einer Gruppe freizuhalten. Ein Kompromiss hielt den Raum allen Gruppen offen und gab dem Maschinenpark einen festen Platz. So trafen sich weiter Gruppen in diesem Raum. Die bequemen und umstrittenen Zahnarztstühle wurden sitzend sehr geschätzt. Die technische Umgebung erzeugte Neugier. Die Gruppen ließen sich in Betätigung der Maschinen einweisen und probierten sie aus. Die Begeisterung wuchs. Nur wenige Menschen waren immun.
Unterschiedlichste Anwendungen wurden ausprobiert: Fallschirmspringer simulierten Sprünge filmisch und gefühlsecht. Das Flattern kalter Luft und das Gefühl des freien Falls konnten durch Ausrichtung magnetischer Strahlung der vierundsechzig, statt ursprünglich acht, vorhandenen Magnetspulen erzeugt werden.
Mediziner und Psychologen kannten ähnliche Maschinen aus der Forschung, doch die Kombination mit dreidimensionalen Filmen setzte neue Impulse zur Therapie verschiedener Angststörungen, der objektiven Erfassung von Schmerzzuständen und anderem Heilwissen.
Am wenigsten erfreute die Mitmachhausgemeinschaft die Nutzung der Gefühlsmaschine als Droge. Eine neue Gruppe entstand. Die Grundregeln des „Tor zum Herzen“ untersagten zwar die Nutzung von Drogen im Haus, trotzdem gab es, wie überall in der Gesellschaft, auch hier Drogenkonsumenten.
Bisher berauschten sie sich allerdings anderen Orts. Das hatte sich geändert. Regelgemäß wurde niemand anderes belästigt, und doch konnte durch die magnetische Bestrahlung bestimmter Gehirnareale mit Persingers modifizierter Erfindung, ein zeitlich exakt definierter Rausch induziert werden.
Leicht wurde die Flucht aus den Tiefen der Realität in vertraute Momente voller Liebe. Die Person bekam einen gewaltigen, emotionalen Auftrieb. Dieser begünstigte Suchtverhalten. Menschliche Unterstützung wurde für Wirklichkeitsenttäuschte gefordert. Glücklicherweise gab es die im „Tor zum Herzen“.
Zweifel gegen die Gefühlsmaschinen weckte auch die Praxis der Gruppen, die sich sexueller Toleranz verschrieben. Diese wurden ohnehin skeptisch betrachtet, vor allem außerhalb des Hauses. Es gab Gerüchte, nicht ohne Hintergrund, dass sexuelle Toleranz gelegentlich sehr praktisch umgesetzt wurde. Milde umschrieben. Konsequenz waren die Einführung und überprüfung von Altersgrenzen und eine besonders freizügige Gruppe, bekam Termine zu Zeiten in denen nur Erwachsene Zutritt zu den Seminarräumen hatten.
Die Maschinen lösten in diesen Gruppen allein oder gemeinsam, unterschiedlichste Erlebnisse aus, die zu beschreiben oder zu beurteilen ich, als Außenstehender, nicht vermag. Mir bleibt eine gewisse, hungrige Neugier, die ungestillt behaglich kost.
Religiöse Gruppen akzeptierten die Maschine recht unterschiedlich: Die einen verfolgten, wie Xenia, das Erleben von Prophezeiungen, während andere die Maschine vollkommen ablehnten und am liebsten zerstört gesehen hätten. Sie sahen die religiöse Nutzung des Apparates als Verhöhnung Gottes.
Die Erfahrungen mit der Gefühlmaschine und ihre Deutungen bewirkten Streit. Es ging nicht mehr um Raumnutzung. Ethische und religiöse Einwände ertönten gegen den Gebrauch der Entwicklung im „Tor zum Herzen“.
Alle wussten, dass das Gerät unterschiedliche Anwendungen erlaubte, deren Ethik im Nutzergeist lag. Die Offenheit und die Grundregeln der Gemeinschaft milderten ethische Zweifel.
Das Erleben von Mitgefühl, Menschlichkeit, Krankheit, Heilung, Gefühle beim Fallschirmspringen, Hochgeschwindigkeitsfliegen, Motorbootfahren, Turmspringen, Bungee, phantastischen Weltreisen und die vereinfachte Vermittlung von botanischem, zoologischen und jedem anderen Wissen sprachen, wie den zuletzt genannten Spaßfaktor, deutlich für die Maschine.
Ohne diese vielseitigen Gründe hätten sich mehr Clubmitglieder gegen das altmodische, verführerische Spielzeug gewehrt. Die Abstimmung gewann die Gefühlsmaschine.
Das Schattendasein der Tech-Visioneers war beendet. Zahnarztstühle hatten sie unbeabsichtigt in das Blickfeld der Gemeinschaft gebracht.
Sie hatten aus technischer Spielerei virtuelle Realität geschaffen. Bezüglich der Minderwertigkeit vorhandener Produkte war das Wort „erfunden“ angemessen. Das „Tor zum Herzen“ patentierte die Gefühlsmaschine und reichte sie mit offener Lizenz und der Anleitung zum einfachen und billigen Nachbau an die Welt weiter. Am schwierigsten war es magnetische Spulen, netzhäutig gerichtete Projektoren und Lautsprecher in den Helm zu bauen, ohne den Reizschutz zu opfern. Das Material war, den Motorradhelm ausgenommen, alter Elektroschrott.
Paul sah sich um. Zwölf antike Zahnarztstühle mit futuristischen Mustern im Kreis erinnerten ihn an eine Raumkapsel auf ihrer seltsamen Reise ins All. Bewegungslos saßen Menschen zurückgelehnt mit silbernen Helmen. Die Kopfabdeckungen verjüngten sich konisch zum schwarzen Ende, das dicke Kabelarme zur Decke entließ. Die Federn nahmen den elektrischen Leitungen Gewicht. An der Decke strebten die Kabel im gefächert, wie eine Sonnenuhr, aufeinander zu und vereinten sich in die nach rechts führende Leitung. Dort führte sie die rechte Wand hinunter und verschwand ungesehen in die Transformatoren, die die genaue Dosierung der 1-8 Mikrotesla starken Strahlung ermöglichte. Paul wusste, dass die Strahlung ungefähr so stark war, wie die eines Monitors zur Jahrtausendwende. Dauerhaft eine sehr ungesunde Dosis, wusste er. Doch einmalig, schätzte er die Strahlung nicht gefährlicher ein, als einen lustigen, alkoholischen Abend. Seine Forschungstätigkeit hatte ihn schon schädlicheren Strahlungen ausgesetzt. Die Strahlen fürchtete er nicht. Neben den Transformatoren, die magnetische Spulen mit Strom versorgten standen zwei Monitore, über die Software bedient wurde. Für Neulinge gab es Standardeinstellungen, die überwacht und angepasst wurden. „Alles ungefährliche Werte“, hatte man ihm versichert. Zwischenfälle oder Langzeitwirkungen hatte es dunklen Befürchtungen zuwider nicht gegeben. Weder psychischer noch physischer Natur. Das hatten spätere neurologische und psychologische Untersuchungen ergeben. Alle Macken, die es hinterher gab, waren auch vor den Gefühlszuführungen vorhanden. Erfahrene Nutzer, so wurde Paul aufgeklärt, hatten eigene Profile: Mit gespeicherten Vorlieben und Wunschszenarien.
“ Die fünf und sechs sind gleich frei“, sagte Xenia. Drei Minuten noch. Drei Minuten musterte Paul die seltsamen Reisenden mit bunter Clubkleidung und Silberhelmen. Es schien, als hingen sie an der Angel. Die beiden von fünf und sechs schoben ihre Helme hoch. Trotz verknitterter Haare schienen sie sehr entspannt. Xenia und Paul setzten sich und ihre Reise begann unbemerkt. Denn beim Gotteserlebnis gab es keine Bilder, keine Musik. Die Persinger Variante. Es war still. Minuten vergingen, Xenias Einleitungsphase war sehr kurz und sie konnte sich ohne Zeitverlust ihrer beruflichen Aufgabe widmen.
Paul hingegen wartete. Ein Atheist wartet auf Gott. Er lachte innerlich. Er dachte, dass das sowieso alles Zeitverschwendung war. Der Helm beschoss ihn mit magnetischen Strahlen. Senkrecht durch den Kopf. Kein Geräusch. Kein Licht. Seine Gedanken allein. Getrieben zwischen Langeweile und abwechslungsreichen Phantasien, durch die immer wieder sein inneres „Wie lange noch?“ drang. Er bemerkte, dass er trotz seines sehr guten Zeitgefühls, nicht mehr abschätzen konnte wie lange er schon gelegen hatte. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit. Ewigkeit. Buchstabe für Buchstabe hallte das Wort durch sein Gehirn. Ein großartiges Gefühl mitten im freien Raum. Paul bemerkte, dass er nichts mehr hatte, nicht unter ihm, nicht über ihm. Er war fasziniert an einen luziden Traum erinnert. Er war ganz wach und doch erschien alles ganz unwirklich. Er hielt seine Hand vor seine Augen und blickte ungläubig in seinen Handteller, der trotz vollkommener Schwärze leuchtete. Er bemerktes etwas Fremdes. Da war jemand. Der Einfluss der hyperaktiven Schläfenlappen griff um sich. Ein zweites Wesen war in Paul. Er – Ich. Wir. Ich. Du. Paul erlebte das Wesen. Es war ihm fremd und zugleich widersprüchlich vertraut. Worte des fremden Ichs drangen an Pauls Ohr. Nicht von draußen. Nein. Die Sprache vibrierte in seinem Körper und drang von innen an sein Ohr. Paul hörte den Worten der Stimme aufmerksam zu. Angst verspürte er nicht.
Die Ablehnenden der neuen Entwicklung hatten außerhalb des "Tor zum Herzen" Einfluss geltend gemacht. Im Club war der Widerstand erschöpft. Die Grundregeln boten außer dem Vergehen gegen gesellschaftlichen Konsens keinen Spielraum mehr. Die in Abstimmungen Unterlegenen streuten, der Clubmehrheit trotzend, ethische Bedenken in die Gesellschaft. Dort mobilisierten und polarisierten sie große Teile der Bevölkerung. Religiöse Kreise, Psychologen, Gesundheitsverbände, politische Parteien und Menschenrechtsorganisationen liefen Sturm.
Während Paul und Xenia unter den Motorradhelmen Visionen erfuhren, versammelten sich vor dem „Tor zum Herzen“ Demonstranten mit ihren Parolen. „Stoppt menschenverachtende Experimente“, „Gegen Missbrauch Psychisch Kranker“, „Es gibt nur einen Gott“, „Schluss mit Menschenfang“ und „Gehirnwäsche verhindern“ war auf Transparenten lesbar. Fundamentalisten aller Art demonstrierten. Laute Sprechchöre forderten die sofortige Herausgabe der Maschinen. Jean Luc, ein Vertreter des Ältestenrats, war im „Tor zum Herzen“. Er sah auf die Strasse, sah die Demonstranten und wunderte sich über die große Menschenmenge. Er leitete er sofort eine Online-Konferenz ein. Er fürchtete die Rufschädigung der Gemeinschaft durch die Demonstration. Zur Veranschaulichung der Situation, reichte er Filmszenen der wachsenden Menschenmenge ein und kommentierte sie. Alle staunten. Gewiss, die Demonstration war angemeldet, doch ihre Größe überraschte. Die Rufe von der Strasse wurden lauter. Demonstranten versuchten ins „Tor zum Herzen“ zu gelangen. Polizei hielt sie zurück. Scherben klirrten. Rufe stimmten „Nieder mit dem TZH“ an. Dann bedrohlicher: „Tor zum Herzen! –wie wir’s kennen – macht Schmerzen- lasst es brennen!“
In Konferenz keimte Entsetzen. Stets war das „Tor zum Herzen“ um Dialog bemüht und genoss bisher hohe gesellschaftliche Wertschätzung. Die Feindschaft, offensichtlich destruktiv gesteuert, schien erbittert. Rechts hetzte bekannt einfach: „Tor zum Herzen – ausmerzen – ausmerzen das Tor zum Herzen“. Bekannte Gesichter auf der Straße. Feinde von Frieden und Freiheit. Aggressiv und gewaltbereit. Die Konferenz wählte zehn Diplomaten, die sofort zum „Tor zum Herzen“ bestellt wurden. Ihr Ziel: Klimabesserung. Die Friedlichsten und Wortgewandtesten machten sich auf den Weg. Vor dem Umsonsthotel tobten niederträchtig angestachelte Menschen, als die Gewählten vereinzelt eintrafen. Sie wiesen sich bei den Polizisten aus. Vergeblich. Der Einlass wurde ihnen verwehrt. Die Polizisten ließen sie nicht durch. Die Diplomaten riefen im „Tor zum Herzen“ an. Helen kam heraus. über ihr zerschellte eine Flasche an der Wand. Bier breitete Geruch über sie aus. Scherben knirschten am Boden. Der Portier überprüfte die Ankömmlinge. Zehn Mal wiederholte sich dieses Ritual. Manchmal mit fliegendem Glas. Brennendes Benzin lag bissig in der Luft. Als die Diplomaten in Begleitung feindseliger Sprechchöre in das „Tor zum Herzen“ kamen, trafen sie auf unruhige Gäste. über die hatte bisher keiner nachgedacht. Was für ein Urlaub. Gefangen im Hotel. Die Situation hatte alle überrascht. Nach Kenntnisnahme beriet die Konferenz über die Gäste. Elektronisch wurden Neuankömmlinge unterrichtet. Ein Bus am Bahnhof wurde als Treffpunkt organisiert. Zur Unterbringung von Gepäck und Reisenden. In der Konferenz bestand Einstimmigkeit über die Mobilisierung aller erreichbaren Mitglieder. Die Telefonkette wurde gestartet. Im Chat wurde die Konferenz kommentiert. Die Mitglieder organisierten sich in Gruppen, so dass die Mitarbeiter im Mitmachhaus unterstützt wurden. Die Polizei wurde gebeten, jedes Mitglied durchzulassen. Einzeln. Im Netz wurde die Zusammenarbeit mit der Polizei kritisiert. Staatliche Abhängigkeit wurde heraufbeschworen. Aus Unkenntnis. Jedes im Club gelangte Mitglied erkannte die Hilflosigkeit vor drohender Aggression. Der hatte die Gemeinschaft wenig entgegenzusetzen. Leuchtraketen jaulten rotgrün. Rauchwolken vernebelten die Straße. Im Umsonsthotel kümmerten sich Mitglieder um Gäste. Alle hatte aus Not geborene Solidarität überwältigt. Kleine Gruppen wurden gebildet, damit in schnell herausgefunden werden konnte, wer termingerecht abreisen musste. Das betraf sechs Gäste. Simon fuhr sie zum Bahnhof. Der Bus erwies sich als gemütlicher Notbehelf. Die Abreisenden verstauten ihre Habe und setzen sich zu Vanessa. Sie war aus Frankreich angekommen und müde und erschöpft von der Reise. Per Kurznachricht hatte sie von den Änderungen erfahren. Im Bus herrschte Aufregung. über Ende und Anfang der Ferien.
Du bist. Ich spüre Dich deutlich. Höheres Wesen: Deine Allmacht durchdringt mich. Jeder meiner Atemzüge ist Deiner. Deine tief tönenden Worte umschmeicheln mein Wesen, lassen mich vibrieren. Ich löse mich, mein Gewicht verblasst, mein Kopf neigt sich liebevoll: Ich bitte Dich, um neue Erkenntnis, die ich für Dich zu ihren Ohren trage. Begierig schwimmen Deine Worte im Tempel, den ich Dir erbaute. Der goldene Fluss Deiner Weisung erfüllt mich schwer. Deine Fülle fährt in jede Zelle meiner Körperlichkeit. Nichts werde ich vergessen. Nie den süßen Nektar, nie das Mondenlicht, nie die Morgensonne, nie ihr rotes Meer. Ich liebe Dich, ich danke Dir, dass Du uns Menschen diese Tür schenktest, ich bete Dich an, Danke, gelobt bist Du, gelobt Deine Präsenz. Der letzte Dank war gesprochen, Ruhe kehrte ein.
Xenia nahm den Helm ab und sah Paul an. Seltsam. Wie ruhig er da lag. Selten hatte sie ihn so entspannt gesehen. Die silberne Kugel verbarg sein Gesicht. Xenia war glücklich, dass Paul bereit war mitzumachen. Sie hatte es sich so sehr gewünscht, dass ihm trotz seiner Unspiritualität eine Ahnung ihrer prophetischen Wirklichkeit bewusst wurde. Dann rührte Paul sich. Seine Hände griffen zum Helm, hoben ihn an. Er befreite seinen Kopf aus der Dunkelheit. Xenia sah ihn an. „Und war’s schlimm?“, fragte sie ihn. In der Hoffnung, das es nicht schlimm gewesen war. Paul sah sie an. Etwas Erstaunen lag noch immer in seinem Gesicht.
„Schlimm nicht. Aber gläubig bin ich jetzt auch nicht geworden.“
„Und hast Du die Stimme gehört? Die Einheit gefühlt?“
„Ja, habe ich.“
„So spricht Gott mit mir.“
Dafür hatte Paul keine Worte. Was sollte er sagen? Er hatte eben eine Manipulation seines Gehirns erlebt. So spricht Gott zu seinen Propheten.
„So ist das?“, fragte er Xenia.
„Ja, genauso. Es ist großartig. Er ist großartig.“ Paul war an eine Psychose erinnert, andererseits kannte er Xenia gut. Sie war seltsam, esoterisch bis zum überlaufen. Aber verrückt? Mal abgesehen von Gottesstimmen und Geistersehen. Nein, davon abgesehen lebte sie ganz normal. Sie rannte nicht nackt über die Strasse, warf ihr Geld nicht aus dem Fenster, kleidete sich nicht überdreht, oder sprach wirre Sätze. Nie hatte er das Gefühl gehabt andere Dinge würden sie steuern oder das Ungreifbares ihre Lebensqualität minderte. Im Bett war sie ein Monster. Aber das war ohne Krankheitswert. Genussvoll schrieb er das ihrem Temperament zu. Keine psychiatrische Behandlung, keine Psychopharmaka und im ganz normalen Leben diese Wahrnehmungen, die er gerade gespürt hatte. Ohne Maschine. Ein umwerfendes Gefühl von Einheit, ein seltsames Moment, das ihm erlebte sein Selbst hinter sich zu lassen. Plötzlich empfand er Bewunderung. Ja, ein wenig beneidete er Xenia um ihre Gabe. Eine funktionelle Störung, die Xenia bereicherte. Es sah sie an. Mit anderen Augen. Und dann kam es über seine Lippen:
„Ich verstehe Dich.“
Xenias Augen glänzten. Glücklich.
Nebenan wurde diskutiert. über die Gefühlsmaschine. Die Ansichten waren unterschiedlich. Und es war klar, dass keine Einigung erfolgen würde. Nicht zwischen dem Abstimmungsergebnis des Clubs und dem Demonstrationsziel. Auch nicht über Deeskalationskonzepte. Die Situation war neu. Politische Gruppen, die im „Tor zum Herzen“ wirkten hatten durchaus ähnlich große Demonstrationen organisiert, doch nie gegen die eigene Gemeinschaft. Die Situation verschärfte sich durch Rechte, denen das „Tor zum Herzen“ immer im Auge brannte. Und durch Linke, die die Rechten bekämpften. In einer Nebenstraße brannten zwei Autos. Die Existenz des „Tor zum Herzen“ war gefährdet. Denn die Funktion als Nachbarschaftshaus rührte aus Akzeptanz im direkten Umfeld. Die Minderung nachbarschaftlicher Wertschätzung wäre ein beträchtlicher Rückschritt. Von Ausschreitungen in der Nachbarschaft könnte abhängen, ob das „Tor zum Herzen“ zukünftig als Täter oder Opfer erschien. Während hitzig geredet wurde, traten die zehn bestimmten Diplomaten mit Mikrofonen im ersten Stock ans Fenster. Sie überraschten mit freundlichem, sehr lautem Gruß die Demonstranten und stellten sich vor. Vereinzelt traf Obst und Gemüse. Eier zerbrachen und Fäulnisgeruch trat aus. Stein zersplitterte Glas. Neuer Rauch stieg auf. Kanonenschläge knallten. Eine Leuchtrakete funkte an der Wand. Zwischen dem „Tor zum Herzen“ und der wütenden Menge reihten sich immer mehr Polizisten auf. Die Stimmung entlud Gewalt. Frank wiederholte den Gruß. Bat um Ruhe. Vergeblich. Er redete weiter. Die Lautstärke wurde erhöht. Mühelos übertönte Franks verstärkte Stimme die Demonstranten. Schmerzgrenze. Eine weitere Bitte um Ruhe. Dann erklärte er, dass die Gefühlsmaschine auch im „Tor zum Herzen“ sehr umstritten war und lud redewillige Demonstranten einzeln ins Haus. Verwundert verfolgte Personal und Mitglieder die diplomatische Strategie auf den Monitoren. Die Gemeinschaft schloss sich der Demonstration an. Vertreter der Kirchen und einzelner Gruppen traten ins Haus. Auf den Kleiderwechsel wurde verzichtet. Es ging um Deeskalation. Zeit wurde wichtiger als Vorschrift. Die Sprechchöre hielten an, bis Hans Zester, der prominenteste Gegner der umstritten Erfindung sich vorstellte. Dann verstummten die Chöre. Vereinzelte Rufe forderten ihr „Nieder mit dem TZH – Brennt es ab.“ Doch Zester Rede besiegte Hass mit Inhalt. Es verblieben böse Blicke. Die Demonstranten hörten auch den anderen Rednern zu und applaudierten. Sie teilten die Meinung. Kein splitterndes Glas mehr. Die Konferenz ging weiter. Ungeachtet des diplomatischen Erfolgs gab es weitere Probleme. Neues Aufflammen von Gewalt und Aggression sollte verhindert werden. „Entweder deeskalieren wir oder die Polizei!“, schrieb Rupert in die Runde. Er fügte hinzu: „Ich denke, wir müssen aktiv werden.“
Die anderen lasen seine Worte warteten, denn sie kannten ihn. Keine Lösung ohne Ankündigung. Oft waren seine Lösungen gut, doch recht rau, so dass sie Verbesserungen bedurften. Doch dieses Mal mangelte die Zeit. Wortlos einig war klar, dass Details auch bei der Auswertung besprochen werden konnten. Rupert erklärte seine Idee und bekam Zustimmung. Sein Plan wurde sofort umgesetzt. Alle Mitglieder des Mitmachhauses wurden umgehend informiert. Im Haus waren sechshunderteinunddreißig Mitglieder, Gäste mitgezählt, versammelt. Dem Informationsfluss dienlich wurde leise gesprochen. Musikinstrumente, Bälle, Straßenkreide, Lacktöpfe Artistenkeulen und -kegel wurden verteilt. Gleichzeitig wurden die Pausen zwischen den Rednern verlängert und mit beruhigender Musik aufgefüllt. Langsame, freundliche Latino-Rhytmen erhellten die Gesichter. Dann öffnete sich die Tür. Sechzig Zehnergruppen wurden einzelne aus dem „Tor zum Herzen“ zu den Demonstranten gelassen, andere Gruppen kamen von außerhalb und stießen vereint und informiert in die Demonstration. Wurde eine Rede beendet, klatschten die Gruppen keinen Beifall, sondern im Takt zur Musik und tanzten. Ein Virus wurde gestreut. Angesteckt tanzten andere mit. Beim nächsten Redner wurde die Rede musikalisch unterlegt, so dass die Demonstranten beim Hören auf den Beinen wippten. Die Gruppen reihten sich ein, bemühten sich darum Löcher in die Demonstrantenmenge zu reißen. Manche jonglierten mit Kegeln, andere warfen mitgebrachte Bälle einander zu. Die enge Menge wurde löchriger und bedrohliche Dichte verschwand. Die Situation entspannte sich. Nach der Rede wurde die Musik vordergründig. Latino untermalte Lachen, Scherzen, Spielen und Tanzen. Auf der Strasse entstanden Bilder. Aus Kreide und aus Lack. Später hatte die Strasse bunte Fußspuren. Die Stimmung wurde festlich und zwei Stunden später löste sich die Demonstration friedlich auf.
Wieder im Wald genossen Paul und Xenia grüne Stille. Sie waren am Ort, an dem sich morgens ihre Augen getroffen hatten. Nicht mit gespreizten Beinen erschöpft voreinander stehend in die Augen blickend. Sie saßen auf der Bank am Wegesrand. Xenia lehnte sich in Pauls Schoß, sein Arm lag auf ihr, und sie spielte mit den Fingern seiner Hand. Wieder verglich Xenia ihre Hand mit Pauls. Wie groß sie gewachsen war. Verliebt schloss sie ihre Augen, doch Pauls Lippen küssten sie nicht. Es waren sein Worte. Seine dunkle und tiefe Stimme sagte: „Weißt Du, bei der Demonstration hatte ich ein Déja-Vu. Ich wusste, dass alles so entspannt ausgehen würde. Ich hatte das alles vorhergesehen. In der Maschine.“ Xenia schauderte. Ihre Hand zog seinen Kopf zu sich. Jetzt küssten sich Lippen.
- ENDE -
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