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Assirbad's Traum - von Berrol, 03.03.2019
Assirbad´s Traum

Assirbad war ein Mann von bunten Träumen und starken Gefühlen. Ein Poet, ein wenig Maler, ein bisschen Musikant, ein Denker, der den Drang und die selbst gestellte Aufgabe hatte, sich der Welt zu erklären, ein Mensch, der seine Tage damit zubrachte, Gedanken zu formulieren, Gefühle zu illustrieren und Erfahrungen zu konservieren. Sein Leben war eine ständige Suche nach dem endgültigen Satz, dem allumfassenden Wort, dem universalen Bild. Ein Bild - so stellte er es sich vor - das entweder bis zur Allgültigkeit verallgemeinert oder in allen Ausdrucksmöglichkeiten so weit reduziert werden musste, bis nur noch eine Quintessenz übrig blieb, eine elementare Aussage, die alle Bilder unnötig machte, da sie alle zusammen beinhaltete.
Dieser Aufgabe also hatte sich Assirbad verschrieben. Ein langer Weg, wie er wusste, ein riesiges Mosaik, dass sich Stück für Stück aus Tausenden von Geschichten, Bildern und Klängen zusammensetzte. Wie viele Dinge gab es zu erzählen, wieviele Gefühle zu erklären, welche Flut von Wahrheiten zu verstehen! Und diese Wahrheiten schließlich waren sein Lohn, denn in gleichem Maße, wie er sich seiner Umwelt verständlich machen konnte, begann er, sich selbst- und die Welt zu verstehen.

Nun hatte Assirbad einen Freund, einen Freund, der ihm teurer war, als alles andere auf der Welt, einen Freund, der seit ihrer beider Jugendzeit alles Glück und allen Schmerz mit Assirbad geteilt hatte. Diesem Freund wollte Assirbad ein Geschenk machen, als Zeichen der Zuneigung und der Dankbarkeit für viele Jahre der Freundschaft.
Die Wahl des Geschenkes erwies sich allerdings als schwierig, denn Assirbad dachte dabei an etwas, das einzigartig in in der Welt sein sollte, einzigartig, wie sein Freund es war. Das Geschenk musste etwas sein, was nur er - Assirbad - verschenken konnte. Materielle Dinge kamen so schon von vornherein nicht in Frage, und als er im Fundus seiner körperlosen Besitztümer herumkramte, kam ihm die Idee: Er würde seinem Freund einen Traum schenken.
So ging Assirbad daran, den gewaltigen Schatz seiner Träume nach einem passenden Juwel zu durchforsten, untersuchte bedächtig und behutsam jeden einzelnen Traum nach Wert und Tauglichkeit, bis er schließlich fündig wurde. Es war der Traum der blauen Mondfrau, den er seinem Freund verehren würde, ein Traum, der Assirbad von allen der kostbarste schien, ein Traum, der mit den Jahren gereift, und sogar deutlicher geworden war, ein Traum, von dem er sich nur ungern trennen würde, und somit genau das richtige Geschenk an einen Freund, wie den seinen.

Also begann Assirbad die Geschichte des Traumes niederzuschreiben: Vom Mond im Teich, über Aufbruch und Reise, das Überqueren des grünblauen Delphinmeeres, bis zum Moment des schier unbeschreiblichen Glücksgefühls beim ersten Anblick der blauen Mondfrau, die auf den Schattenmeerterrassen vor der Silhouette der aufgehenden Erde ihre Tänze vollführte.
Dies alles versuchte Assirbad so detailliert wie möglich festzuhalten, und er ließ sich viel Zeit dabei, denn es durfte keine noch so kleine unwichtig scheinende Einzelheit vergessen werden, sei es die Form gewisser Gewächse am Wegrand, sei es die genaue Beschaffenheit des Gerölls auf der Halde des Langen Aufstiegs, oder sei es auch nur ein kaum wahrnehmbar ferner Lichtreflex irgendwo in den fahl am Horizont aufragenden Mondgebirgen. Nichts in seinem Traum durfte Assirbad als selbstverständlich voraussetzen, nichts durfte fehlen, damit sein Freund den Traum später voll und ganz benutzen konnte.
Genau diese Notwendigkeit begann Assirbad bald zunehmende Schwierigkeiten zu bereiten, denn kaum hatte er einen Abschnitt beendet, fiel ihm auf, dass er unzählige Dinge vergessen hatte zu erwähnen. Immer und immer wieder korrigierte er das Geschriebene, fügte hinzu, stellte neue Zusammenhänge her und schrieb und schrieb, bis er begriff, dass bei aller Mühe und aller Zeit der Welt, das Geschriebene Wort niemals auch nur annähernd ausreichen würde, etwas wie einen Traum vollständig verständlich, nachvollziehbar oder gar erlebbar zu machen. So konnte er beispielsweise seitenlang das Blau beschreiben, mit der ganzen Wortgewalt, deren er mächtig war, nur um feststellen zu müssen, dass er mit allen Versuchen der Beschreibung die wahre Farbe getrübt, verwischt, und verschleiert hatte. Es wurde ihm klar, das Blau zwar ein Wort, aber eben doch in erster Linie eine Farbe war, die sich nur als solche voll empfinden ließ.
Es war nun also naheliegend, die Traumgeschichte zusätzlich zu illustrieren. Assirbad wappnete sich mit Pinseln, Farbe und unzähligen Blättern Papier, um dem Traum alle Bilder zu geben, deren er bedurfte.

Er erforschte die Farben des Nachthimmels über den Wäldern und spürte dem geheimnisvollen Leuchten nach, das scheinbar von nirgendwo herkommend durch die verschleierten Tiefen des Weltalls waberte. Er verglich die Schattierungen der blassen Mondscheibe mit den gleißenden Landschaften seines Traumes, filterte das, was er sah durch das, was er dabei empfand, und nicht selten entdeckte er dabei, dass sich hinter den scheinbar reinen Farben der Natur die noch viel reineren Farben des Herzens versteckt hielten. Bei seinen Wanderungen durch die Nächte, erlebte Assirbad das Firmament oft so klar, dass er fürchtete - und auch leise hoffte - er würde kopfüber hinauf, hinunter, hinein stürzen. Er befühlte und betrachtete den Morgentau auf den Blättern und erblickte dabei das ganze sich erhellende All eingeschlossen in einem winzigen Wassertropfen.
Sein Traum nahm also Gestalt an, sehr behutsam, Farbe für Farbe, Bild für Bild, Augenblick für Augenblick. Miit unendlicher Geduld fügte er Worte und Bilder zusammen, entwarf Arrangements und verwarf sie wieder.

Es verging, ohne dass Assirbad es so richtig wahrnahm, die Zeit bei seiner Arbeit, und als er schließlich das erste Mal seine fertig bebilderte Geschichte oder auch seine fertig betexteten Bilder ruhig in Augenschein nehmen konnte, war bereits der Frühling seines Lebens gewichen, und der Sommer strebte seinem Zenit zu, ruhig aber unaufhaltsam, wie der Bach dem Meer.
Assirbad war von der dahin schreitenden Zeit wenig berührt worden. Die Beziehung zu seinem Freund hatte sich in den Jahren sogar noch vertieft, ein Umstand, der Assirbad auf das schönste bestätigte, das richtige Geschenk ausgewählt zu haben. So war er nun, da er das Werk seinem prüfenden Blick unterzog, erfüllt von der seligen Spannung der Vorfreude. Tief entzückt nahm er wahr, dass Wort und Bild eine sich auf wunderbare Weise ergänzende Ehe eingegangen waren. Die schimmernden Hügel und kalt gähnenden Täler der Mondwelt wurden begleitet und unterstrichen vom feinen Auf und Ab seiner Verse und Schilderungen.
Ein faszinierender Traum war entstanden: Die vergänglichen Momente der Wanderung seiner Worte durch die unvergängliche Welt seiner Bilder, eine Welt, die er in unermüdlichem Eifer und mit unerschöpflicher Leidenschaft zum Leben erweckt hatte; eine Welt, bei deren Erschaffung er um jeden Farbton gekämpft und schließlich gewonnen hatte, in einem Sieg von Farben, die für ihn zuvor undarstellbar gewesen waren. Eine Welt allerdings, in der, wie er bald feststellte, der Wind nicht wisperte, das Meer nicht rauschte und die sanften Melodien der unsichtbaren Spährenharfen stumm blieben. Eine Welt der lautlosen Tänze, der tonlosen Gesänge, und der schweigenden Natur.
Zu groß war Assirbad´s Liebe zu seinem Traum und zu tief die Zuneigung zu seinem Freund, als dass er sich von dieser erneuten Erkenntnis hätte entmutigen lassen. Im Gegenteil: Jede Mühe, die ihm dieses Geschenk abverlangte, machte es schließlich wertvoller.

Eine neue Suche begann, schwieriger als die Suche nach Worten und Farben, denn die Klänge verbargen sich hinter beiden. Sie verbargen sich drinnen wie draußen, sodass Assirbad neben den ausgedehnten Zügen durch die nächtliche Welt noch viel ausgedehntere Wanderungen auf den verschlungenen Talstraßen seines Inneren zu unternehmen hatte. Es wurde stiller um ihn. Er vermied Tag für Tag penibler alle unnötigen Geräusche, um nicht abgelenkt zu werden bei seinem Forschen nach den Tönen hinter den Klängen. Das Wehen des Windes war kein Geräusch mehr, das in sich abgeschlossen war, es war ein Millennium von Klangkompositionen aus knackenden Ästen, sich aneinander reibenden Grashalmen, leise flirrenden Tannennadeln, bröckelnder, sich lösender Erde, fein gegen die Blätter prasselndem Staub, weich gesträubten Vogelfedern, eine Symphonie aus kaum wahrnehmbarem Rufen, Lachen, Singen, Stöhnen, Atmen, von unsagbar weit entfernten Lippen geweht, die vielleicht inzwischen schon für immer verstummt waren. Er stöberte sie auf, unter jedem Stein, in jedem Blütenkelch. Er fing sie ein mit der warm durchströmten Säule seiner Flöte und mit der schwerelosen Weite seiner eigenen Stimme. Er wurde so leer und doch so übervoll, wie ein Spiegel der Klänge. Während er diesen riesigen wilden Garten aus Tönen langsam kultivierte, jedes klingende Sträuchlein hingebungsvoll umhegte, färbten sich in seinem Lebenssommer schon an manchem Baum die Blätter gelb.

Schließlich kam der Tag, an dem Assirbad seinen neu erschaffenen Traum mit Klang erfüllen konnte. Zu seinem gewaltigen Werk aus Bildern und Schriften hatte er eine epische Komposition verfasst, gesungen, gesprochen und mit einer Vielzahl an Instrumenten besetzt. Nun war sein Traum eine begehbare, erlebbare Geschichte geworden, ein sich selbst erzählendes Märchen, ein schimmerndes, klingendes Zimmer, das einem von selbst durch die Tür entgegen trat.
Als er sich bei Lektüre der Geschichte und Betrachtung der gemalten Traumwelt das erste mal seine Komposition vorspielen ließ, war er tief erschüttert. Was er da von sich preisgab, glich so sehr seinem Traum, kam so tief aus ihm selbst, dass er einen Moment fürchtete, das ganze Werk seiner Neuerschaffung könnte die schneidend scharfe Realität des Tageslichtes nicht überleben und im nächsten Augenblick zu nichts vergehen. Aber es hielt stand, es war fast vollendet. Nur fast, denn obschon die Kulisse, der Moment, die Umstände geschaffen waren, musste die Wanderung erst noch beginnen. Der Pfad durch die Landschaften der Mondwelt, der lange Weg bis hinab zu den Terassen des Schattenmeeres, wo am Ende der Reise die blaue Mondfrau wartete, der Weg war Assirbad endlich gelungen. Ein wundersamer und an Wundern reicher Weg, der aber wertlos war, beging man ihn nicht. Was Assirbad noch zu tun blieb, war, diesen Weg mit seinem Freund einzuschlagen. Dort, wo- und ebenso wie er selbst ihn betreten hatte.

Eines Abends, als der kühle stille Herbst schon in Assirbad´s Leben Einzug gehalten hatte, machte er sich mit seinem Freund auf den Weg. Die Nacht hatte sich schwer und schwarz über die Wälder gelegt, der Mond trieb voll und nah in der Ozeankuppel des Weltalls, die Nebel hatten Moos und Unterholz verschluckt, als die beiden schweigend an der Stelle anlangten, wo in Assirbad´s Traum die Reise begonnen hatte: Ein kleiner Teich, inmitten einer weiten Waldlichtung gelegen, eine grasbewachsene Bodensenke, die nur in der Zeit von September bis März mit Wasser gefüllt war. Gleich einem schillernden Zyklopenauge starrte der Tümpel in die endlosen Weiten der Nacht hinauf, ohne mit dem Blick wirklich Halt zu finden. Die beiden setzten sich ins nebelfeuchte Moos am Rande des Teiches. Assirbad reichte seinem Freund die große Mappe mit Geschichte und Bildern des Traumes und begann leise und zart auf seiner Flöte zu spielen.

Die weichen Töne schwebten weit und voll über den Wasserspiegel hinweg, in dem der Mond sein eigenes Antlitz betrachtete. Klarer schien dieses Bild zu sein, und näher als die blausilberne Kugel, die über ihnen den Himmel erleuchtete. Während Assirbad spielte, gewahrte er erst die Jahre, die vergangen waren, seit er mit der Arbeit an seinem Geschenk begonnen hatte, und mit den Klängen seiner Flöte trieben die Erinnerungen über das Wasser. Vor wie vielen Jahren hatte er hier die erste Nacht verbracht, in stiller ehrfürchtiger Betrachtung des Mondes im Teich? Wann war ihm der Traum zum ersten mal erschienen und wann zum letzten mal?
Assirbad spielte immer weiter, immer weiter fort, erkennend, dass dieser Traum seinen Nächten nun für immer fern bleiben würde, denn er hatte ihn wahrhaftig weggegeben. Als die Lichtung satt und warm gefüllt war mit den körperlosen Melodien, nahm Assirbad die Flöte von den Lippen und begann zu singen. Seine Stimme, eine Stimme, die ihm fremd geworden war, erklomm die Halde des Langen Aufstieges, sie durchmaß die türkisen Fluten des Delphinmeeres, tanzte mit dem Flammenvolk um die nächtlichen Lagerfeuer, hallte wider von den Wänden der Flusshöhle, ritt auf dem Rücken des weißen Hengstes über die großen Reiche in den schattigen Tälern des Mondgebirges. Sein Lied trieb durch die verwachsenen Hohlwege, die zum Steinernen Tor führten. Es wehte hallend auf die silberne Hochebene hinaus, erreichte die langen Treppen über der Terasse und fand schließlich die tanzende Mondfrau. In blindem blauen Glück drehte sich die Melodie mit der Mondfrau im Kreis, bis sie schwer wurde und von Abschied sang, dem Abschied von der blauen Mondfrau, von Liebe, Leben und Lust. Noch einmal, wie durch eine Luftspiegelung über der Wüste, war Sie zu sehen: Sie ritt auf einem Rappen durch den Lun Fluß, bis das Bild allmählich verging und nur noch Ihre Augen da waren, für einen langen zerbrechlichen Moment. Dann war es verschwunden und nur der Mond spiegelte sich noch im Teich wie er es schon immer getan hatte. Fern und schweigend.

Am östlichen Horizont dämmerte bereits der Tag herauf, als Assirbad es endlich wagte, zu seinem Freund hinüber zu sehen. Ein sanfter blauer Schimmer lag in dessen Blick, und Assirbad wusste, dass sein Traum eine neue Heimat gefunden hatte. Es war nun, nachdem er mehr als sein halbes Leben damit zugebracht hatte, einen Traum zu erklären, nichts mehr für Assirbad zu tun, als seine Flöte in das Futteral zu schieben und den Heimweg anzutreten.

Das Ende seines Lebensherbstes verbrachte Assirbad stumm, und auch im fortschreitenden Winter kam ihm kein Wort mehr über die Lippen. Er hatte alles gesagt und durfte nun noch eine Weile dankbar schweigen bis zu jenem nicht mehr fernen Tag, an dem sein Jahr enden würde



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