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F Ü L L E R - von Jurewa, 08.05.2006

Der Stand des Glasbläsers, zwei einfache Böcke über die quer ein Brett gelegt war, befand sich in der Mitte des Marktes. Auf dem Brett waren Glasstifte, Tintenfässer und ein Schreibblock verteilt. Die Stifte hatte er nach Größe und Farbe ausgerichtet. Der Schreibblock diente zum Probieren der einzelnen Glasfüller.
Die Füller sahen alle unterschiedlich aus, sowohl in der Farbe, in der Größe als auch in der Dicke der Spitze. Die Spitzen waren spiralförmig gedreht. In den Rillen sammelte sich die Tinte, die sich während des Schreibens verteilte.
Der Blick des Glasbläsers fiel auf Wiebke, die vor seinem Stand halt machte. Er lächelte sie an. Sie reagierte nicht, war in Gedanken bei den Gegenständen auf dem Tisch. Sie griff einen Füller und schrieb ihren Namen auf das Papier. Ganz leicht glitt die Spitze über das Papier. Schreiben und Lesen faszinierte Wiebke seit frühester Kindheit und sie beschloss, sich einen Glasfüller zu kaufen.
"Die Tinte kommt aus Dresden!" sagte der Glasbläser zu ihr. Sie schaute hoch.
"Wunderbar, da komme ich auch her!"
"Dann erinnern Sie sich sicher auch an die Schulbänke mit den eingelassenen Tintenfässern am oberen Rand, in die man die Füller eintauchen konnte?“
Sie schaute nachdenklich auf den Glasbläser, der nicht viel älter war als sie. Ja, sie konnte sich an die harten Bänke, auf denen sie Fangen gespielt hatten, erinnern. Fast im selben Moment fiel ihr die Geschichte mit dem weinroten Füller ein. Sie tauchte die Spitze des Glasfüllers in das Tintenfass und schrieb ihren Namen auf den Block. Unentwegt. Mechanisch. Immer wieder. Sie nahm nicht wahr, was sie schrieb.


2
In der zweiten Klasse fand sie unter ihrer Holzbank einen weinroten Füller mit einer goldenen Feder. So einen hatte sie nie zuvor gesehen! Sie benutzte den gängigen Schulfüller, der sich schwer schrieb und teilweise kleine Löcher ins Papier riss. Für einen neuen Füller war kein Geld da. Es gibt wichtigere Dinge, meinte ihre Mutter an dem Tage, als sie sich darüber bei ihr beschwerte.
„Mach nicht so ein Theater wegen deinem Füller, beeile dich lieber! Du musst noch einkaufen und Bernd beaufsichtigen. Gegen17 Uhr musst du Frau Gerber das Kleid bringen, das ich ihr genäht habe. Sie möchte es morgen tragen. Denk dran, sie muss noch bezahlen! Und achte darauf, dass Bernd ordentlich isst und am Tisch nicht so rumkrümelt. Ich habe heute die Brote schon fertig geschmiert, sie stehen auf dem Fensterbrett. Ich muss los, bin spät dran!“
Ihr Bruder Bernd war drei Jahre jünger als sie. Der Vater hatte sich schon vor Jahren von der Familie getrennt..
Dieser weinrote Füller schrieb sich ganz leicht, er glitt wie von alleine über das Papier.
Sie steckte ihn einfach ein.
Am nächsten Tag fragte die Lehrerin, ob einer der Schüler einen Füller gefunden habe. Sie erstarrte. Ihre Hände waren eiskalt. Niemand meldete sich.
Sie liebte ihn, diesen Füller, die Schularbeiten machten doppelt Spaß. Sie benutzte den Füller aus Angst vor einer Entdeckung zuerst nur zu Hause und zeigte ihn niemandem. Immer wieder nahm sie ihn in die Hand, spielte mit ihm. Sie legte ihn auf den Tisch, drehte ihn, zeigte die Feder Richtung Tür, so konnte sie sich etwas wünschen, es waren imaginäre Wünsche, sie legte die Spielregeln fest, immer wieder neu und lebte die Erfüllung der Wünsche in Gedanken aus.
Die hintere Kappe hatte bald ein Loch, durchgebissen.
Eines Tages nahm sie den Füller mit in die Schule. Während einer Pause, wo die einzelnen Klassen die Räume wechselten, sah das Mädchen, dem der Füller ursprünglich gehörte, ihren Füller und schrie auf. Die Klassenlehrerin wurde herbeigerufen, hörte sich die ganze Geschichte an und schaute Wiebke mitleidig an. Alle starrten sie an. Sie entschuldigte sich vor allen Kindern, immer wieder nach Worten suchend, bei dem Mädchen, dem der Füller gehörte. Die Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie versuchte, sich mit dem Ärmel die Nase zu wischen, aber der Schnodder lief am Kinn herunter.
"Möchtest du diesen Füller zurück?" fragte die Lehrerin die ursprüngliche Besitzerin.
Er war inzwischen wertlos, angeknabbert wie er aussah.
Doch- das Mädchen wollte! Sie riss Wiebke den Füller aus der Hand, warf ihn auf den Boden und zertrampelte ihn, immer wieder trat sie auf den inzwischen völlig kaputten Füller.
Die Lehrerin strich Wiebke über das Haar und sagte zu ihr:
“ Beruhige dich, geh nach Hause, ich kläre das mit dem Direktor.“
Aber es wurde nie wieder darüber gesprochen. Sie erinnerte sich, dass sie wochenlang voller Angst und starker Bauchschmerzen zur Schule gegangen war, immer den Gedanken im Kopf, heute, heute muss ich zum Direktor! Es kam nie dazu.
Das Gefühl aus Scham und Unverständnis unmittelbar nach der Entschuldigung lösten bei ihr sofort heftigste Bauchschmerzen mit gleichzeitigem Durchfall aus. Sie schaffte es nicht, nach Hause auf die Toilette zu gehen und machte in die Hose und überlegte voller Angst, was sie jetzt ihrer Mutter sagen sollte. Ihrer Mutter, die sie mit allen möglichen Aufgaben betraute, und die meinte, Wiebke sei ihre Freundin! Sie konnte sie doch nicht enttäuschen und ihr sagen, dass sie geklaut habe! Und wieder bekam sie Bauchschmerzen.
Sie erzählte nichts zu Hause. An jenem Tag wusch sie ihre Sachen selbst aus, redete mit keinem. Als die Mutter am Abend nach Hause kam und die nassen Sachen sah, wunderte sie sich, fragte aber nicht nach der Ursache, nur, ob zu Hause alles geklappt habe. Ja, natürlich hatte alles geklappt. Wie immer. Es interessierte sie überhaupt nicht, was passiert war. Und Wiebkes Magen begann wieder zu rebellieren. Sie konnte einfach nichts sagen.
An dem Abend griff sie nach ihrem Lieblingsbuch, schlief aber sofort nach den ersten Zeilen ein.
Eine eventuelle Aussprache mit dem Schuldirektor hatte sie sich in den folgenden Wochen unzählige Male in allen möglichen Varianten ausgemalt. Sie war in ihren Gedanken so weit gegangen, zu fragen, warum sie sich ständig um den bescheuerten Bruder, der nie auf sie hörte und ewig quengelte, kümmern musste. Warum ihre Mutter nie Geld hatte. Wieso sich der Vater nie meldete.

3
Jemand stieß Wiebke unsanft zur Seite. Sie löste sich aus ihren Erinnerungen und legte den Glasfüller auf den Tisch. Gedankenverloren schaute sie hoch, direkt in die Augen des Glasbläsers, der sich ihr sofort widmete.
Der Glasbläser war von schmaler Gestalt, das Gesicht leicht zerfurcht und doch jungenhaft. Die Mundwinkel zeigten nach oben. Mittelpunkt seines Gesichtes war der Blick aus nicht sehr großen dunklen Augen, die hin und her huschten. Seine schlanken Hände sortierten und richteten ständig die Gegenstände auf seinem Verkaufstisch. Er war ganz in Schwarz gekleidet, trug eine Brille wie John Lennon, die einen seltsamen Kontrast zu seiner Brechtfrisur bildete.
Wiebke konnte sich einfach nicht entscheiden. Sie probierte einen anderen Füller aus. Dabei überlegte sie, sollte es der sein, der eine dicke Linie zieht oder doch lieber der mit der schmalen Linienführung? Und welche Farbe sollte er haben?
Der blaue konnte es nicht werden, blau bedeutet ‚kühl’, sie mochte nicht über kühle Dinge schreiben. Da, der grün-schwarze Glasfüller, der gefiel ihr.
Grün- Wiebke dachte an das grüne Thermalwasser auf der Insel Ischia, an die Hitze auf der Insel, jene Art Hitze, die den Körper umspielte, Reibung erzeugte und erregte. Ja, der grüne kam für sie in die engere Auswahl.
Der Glasbläser schaute immer wieder zu ihr hin.
"Wussten Sie, dass ein Schuss blaue Tinte in Weißwäsche die Wäsche strahlender macht?" unterbrach er ihre Gedanken.
"Ja, das weiß ich von meiner Oma!" antwortete sie schnell und lachte dabei.
Ganz am Rand lagen gelbe Füller. Gelb- Neid, aber auch die Farbe der Zitronen. Sofort dachte Wiebke an den Geruch der Zitronen auf ihrer Insel, der durch alle Gassen und Straßen zog. Schade, entschied sie beim Ausprobieren, der gelbe konnte es nicht werden. Beim Schreiben kratzte er und riss Löcher ins Papier wie damals der Schulfüller.

4
"Sie dürfen nicht so fest aufdrücken, sonst bricht die Spitze ab!"
hörte sie den Glasbläser sagen und sah, wie er einer Frau den Füller aus der Hand nahm und damit ganz leicht auf den Block schrieb.
Ja, die Dicke und Form der Spitze waren schon wichtig.
Sollte schnell geschrieben werden und oft?
Oder eher selten und nur an bestimmte Personen?
Sollte der Füller ständig benutzt oder zu den vielen anderen gelegt werden?
Muss die Spitze eingeschrieben werden, nutzt sie sich ab?
Sie stellte dem Glasbläser diese Fragen, lächelte dabei. Der Glasbläser antwortete auf alle Fragen, sofern sie überhaupt beantwortet werden sollten. Kaum merklich zog er die Mundwinkel nach oben.
Schließlich entschied sie sich für den grün-schwarzen Füller. Er lag ausnehmend gut in der Hand, glitt leicht übers Papier. Wiebke hatte das Gefühl, dieser Füller fühlte sich warm, thermal-warm an.
"Sollte die Spitze abbrechen, aus welchen Gründen auch immer, so schicken Sie mir den Glasfüller zu. Ich werde ihn für Sie reparieren."
Lächelnd reichte er ihr seine Visitenkarte und nahm sie fast im selben Moment zurück. Aus seiner Jackentasche holte er einen weinroten Füller mit einer goldenen Feder und schrieb die Nummer seines Handys auf die Karte. Dabei wurde er von einem Kunden angesprochen. Er legte seinen Füller auf den Tisch und drehte sich um.
Da lag er. Ein weinroter Füller! Wiebke erstarrte, wurde ganz blass, schaute sich kurz um. Ihre Hand glitt auf den Tisch, wie fremdgesteuert. Und sie steckte den Füller einfach ein.
Der Glasbläser beendete das Gespräch auf der anderen Seite des Tisches und kam zu ihr zurück. Er schaute auf den Tisch, bemerkte den Verlust seines Füllers und schaute Wiebke ins Gesicht. Er schaute ihr direkt in die Augen. Kein Ton fiel zwischen ihnen. Wiebke wünschte sich, dass der Glasbläser sie auf den Füller hin ansprach, sie fragte, ob sie sich den Füller eingesteckt hatte. Er fragte nicht. Er schaute sie nur an mit diesem warmen, vertrauensvollem Blick. Wiebke blickte nach unten. Auch diesmal würde nicht angesprochen werden, ob und warum sie den Füller, der ihr nicht gehörte, eingesteckt hatte. Enttäuschung breitete sich in ihr aus. Eine völlig irrationale Enttäuschung.
Sie packte den grünen Glasfüller und das Fass mit der Tinte in ihre Tasche, nickte dem Glasbläser kurz zu und lief los.
„Hallo, junge Frau!“ hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich und erschrak. Sie drehte sich um und sah den Glasbläser vor sich stehen. Ihr Magen verkrampfte.
„Sie haben Ihre Brille vergessen. Wie wollen Sie ohne Brille meine Visitenkarte lesen?“ fragte er Wiebke etwas atemlos. Sie schaute ihm in die Augen, sah das Vertrauen darin und griff langsam in ihrer Tasche nach dem weinroten Füller. Sie gab ihn ihm zurück. Im Grunde genommen hatte sie es gewusst, man konnte die Zeit nicht zurückdrehen. Niemals.
Der Glasbläser senkte den Blick und fragte leise, fast stotternd, ob sie sich bei ihm melden werde. Ja, antwortete sie ihm mit heller Stimme, ganz sicher sogar.





































©2006 by Jurewa. Jegliche Wiedergabe, Vervielfaeltigung oder sonstige Nutzung, ganz oder teilweise, ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Autors unzulaessig und rechtswidrig.

Kommentare


Von Tuutikki
Am 20.09.2006 um 22:39 Uhr

Danke für die Geschichte! Sie gibt die Hoffnung, dass man die Vergangenheit abschliessen kann, wenn man bei der Konfrontation mit der damaligen Situation in der Gegenwart nun doch richtig handelt. Dass der Verkäufer keinerlei negative Emotionen empfindet, sondern die Frau auf irgendeine Art zu verstehen scheint und sich sogar eine Vortsetzung ihrer Bekanntaschaft wünscht, ist für mich wie ein weiteres Zeichen, dass wenn man seine alte Schwäche nun doch endlich überwindet, sich vor einem neue, ungeahnte Wege und Möglichkeiten öffnen können.






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Es gibt 1 Kommentar


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