Bariloche, 12.07.2019
Wir stehen im Terminal eines winzigen Flughafens von der Größe eines Supermarkts. Vor mir sehe ich zwei Kassen zur Gepäckabgabe und einen einzigen dieser Sicherheitsscanner mit einem Polizisten davor. Die Eingangshalle wirkt so minimalistisch, als sei sie nur ein provisorisches Film-Set für eine romantische Schnulze, in der ein Verlobter seine Angehimmelte im aller allerletzten Moment vor dem Abflug einholt. Er sprintet dabei ungehindert durch die Sicherheitskontrolle, weil Liebe nämlich alle Grenzen überwindet.
Auch ich passiere jene vermeintliche Barriere, ohne das auch nur ein einziges Lämpchen an der Scannerattrappe blinkt. Mein Rucksack huscht unbescholten durch den Gepäckscanner. Nicht mal die randvolle Einliterflasche bringt den einen anwesenden Polizisten dazu, irgendwas auszupacken. Ist die Uniform überhaupt echt?
So oder so fühle ich mich kurz kriminell - aber eigentlich ist das ganze doch eher beruhigend, oder? So weit weg von Terror und Tod zu sein, dass es an Flughäfen noch so locker zugeht wie an der Kasse von Edeka. Argentinien scheint in echt genauso wie im Film - trotz der militanten Vergangenheit - noch immer der ruhige Hafen der Geflüchteten, in dem Menschen aus aller Welt ihre zweite, friedvolle Heimat gefunden haben. Italiener und Spanier, Deutsche und Drogendealer, Juden und Nazis - aber auf jeden Fall keine Terroristen.
Unser Flug dauert knappe drei Stunden, unter uns liegt nichts außer den Weiten der patagonischen Pampa. Die Wintersaison fängt erst in zwei Wochen an und so sind wir nach unserer Ankunft im angenehm stimmungstoten Hostel auch nahezu die einzigen Touristen, die etwas außerhalb der Stadt zwei Mountainbikes ausleihen. Siebenundzwanzig Kilometer durch die malerischen Berglandschaften und an den Seen entlang, die so still, ewig glatt daliegen, als hätten die Götter sie in allererster Linie als ihre Spiegel erschaffen und dann hier vergessen. Obwohl wir fast nur an gut asphaltierten Straßen entlang fahren, ist die gottlose Stille dennoch überwältigend - das rollende Geräusch von profilstarkem Reifengummi auf nassem Asphalt ist alles was der dichte Wald von uns mitbekommt.
Einmal hart links und schon platschen wir uns einen pfützigen Wanderweg durch braunen, dicken Schlamm herunter bis an das Ufer eines Sees. Vor uns erscheint der vermutlich leiseste Strand meines Lebens. Es bewegt sich absolut nichts - man möchte den Arm ausstrecken, um das imaginäre Gemälde zu berühren. Der Felsen auf den wir uns wortlos setzen, ist so perfekt warm, wie die Sitzheizung im Auto der Eltern meines Freundes, die mich im Winter immer dampfend vom Fußballtraining abgeholt haben.
Ich schwenke meinen Kopf so weit von ganz links nach ganz rechts, als wäre ich eine Eule. Es sind 360 Grad nur schroffe Toblerone-Berge, schneeweiße Schweizerkäseberge, saftige Krombacher-Wälder und ein mintgrüner See so glatt und klar wie aus Halsbonbon-Werbung zu sehen. Die weißen Sonnenstrahlen treffen scharf und ohne Schimmern direkt auf seine Oberfläche und werden von dort verlustfrei und schmerzend klar in meine Augen reflektiert. Ich schließe meine Augenlider kurz und das typische, orangene Leuchten an ihrer Innenseite flackert heller als ein Warnblinker. Warum habe ich ausgerechnet hier die Fahrräder angeschlossen?
All diese Produkte und Sorgen, ja die gesamte zerstörerische Zivilisation fühlen sich für mich gerade jedoch weiter weg als der Mond an. Es ist nicht der kleinste Schritt eines Menschen, ja nicht mal eines Tieres zu hören. Kein Rascheln, kein Plätschern, kein Zucken. Der Wind streichelt nicht ein einziges Blatt der Bäume in unserem Rücken. Alles in meinem Blickfeld wirkt so, als wäre es schon immer hier gewesen, als hätte es schon immer so ausgesehen. Ewigkeit in Perfektion.
Meine Mutter sagte einmal nach einem Urlaub mal zu mir, dass die Natur so schön war, das es weh tat. Und genau das tut es gerade. Denn aus dieser imposanten Stille und perfekten Harmonie spricht die bedrückende Erkenntnis, dass wir Menschen der vermutlich gravierendste Fehler sind, den die Evolution je hervorgebracht hat. Es ist diese urige Gewissheit, dass überall wo wir uns nicht niedergelassen haben, ein wunderschönes, perfektes Gleichgewicht herrscht. Pfote in Pfote und Blatt auf Blatt schließen sich die vollkommenen Kreisläufe der Natur hier. Keine Verbrechen, keine Fahrräder, keine Schlösser.