Kapitel 01 Keine Liebe von der Mutter
"Lillyann-Sofie - räume endlich deine Spielsachen auf!" Die Stimme der Mutter klang jetzt schon leicht verärgert. Wenn sie Lillyann-Sofies Namen in voller Länge aussprach, dann war Vorsicht geboten. Sonst nannte sie ihr kleines Mädchen immer liebevoll "Lilly". Lilly hatte absolut keine Lust die Spielsachen wieder wegzuräumen - die brauchte sie doch am Abend sowieso wieder.
Sie wollte jetzt mit ihren Freunden draussen im Hof spielen und sich nicht mit so blöden unnötigen Aufräumereien herumplagen. "Los jetzt beeile dich und vertrödel nicht die ganze Zeit - deine Freunde warten bereits auf dich", drängte die Mutter. Lilly setzte einen trotzigen Gesichtsausdruck auf - nein, sie wollte sich nicht zwingen lassen – immer mußte sie so viele Aufräumarbeiten machen. "Wenn du dein Zimmer nicht aufräumst, darfst du nicht nach draussen zum Spielen", droht die Mutter jetzt energisch. Diese Drohung zeigt bei Lillyann-Sofie deutlich Wirkung. Das war eine mächtig grausame Drohung. Gefangen - kam Lillyann-Sofie der erste Gedanke, ihre Mutter war tatsächlich so grausam und wollte sie bei dem schönen Wetter im Haus gefangen halten während all ihre Freunde draussen spielen durften.
Bestimmt waren deren Mütter nicht so grausam und zwangen sie, zu hause bleiben zu müssen. "Meine Eltern haben mich nicht mehr lieb", stammelte die Kleine traurig vor sich hin, während schon die ersten Tränen sich einen Weg über ihre Wangen suchten. Trotzig packte sie das Stofftier, welches sie von ihrer Mutter zum letzten Geburtstag geschenkt bekommen hatte und warf es in die andere Ecke des Zimmers. Die Mutter sah kurz ins Zimmer, ihr Blick verriet allerdings, dass sie es ernst meinte mit dem " draussen nicht Spielen dürfen". Durch das geöffnete Fenster drang das fröhliche Lachen der anderen Kinder. "Und meine Mutter hält mich hier gefangen" redete sich Lilly ein und ein leises Schluchzen verriet ihren Kummer darüber, dass ihre Mutter sie nicht mehr lieb hatte.
"Wenn ich nicht mehr da wäre - dann würde sie schon sehen - dann tät‘s ihr bestimmt wieder leid mich hier eingesperrt zu haben", kam jetzt der Kleinen in den Sinn. Sie hatte ab und zu schon die Nachrichten gesehen wo ein Kind gesucht wurde und wie nach dem Finden die Eltern ihr Kind fast vor Freude und Liebe erdrückt hatten. Den Eltern müßte man einmal zeigen wie es ist, ohne ihre kleine Lilly sein zu müssen. Das Schluchzen hörte schlagartig auf bei diesem Gedanken. Für Lilly war es beschlossene Sache.
Die Mutter arbeitete in der Küche - bemerkte nicht, als sich Lillyann-Sofie an der Türe vorbeischlich und nach draussen ging. Ihre Freunde durften sie nicht sehen - die hätten alles vermasselt. Lillyann-Sofie schlich sich vorsichtig um das Haus zu dem Hinterausgang.
Geschafft - sie stand auf der Strasse ohne entdeckt worden zu sein. Zwei Strassen weiter gab es eine Bushaltestelle wo immer viele Leute ein und ausstiegen. Sie war mit ihren fast fünf Jahren schon ein paar mal alleine zu der Oma gefahren - die wohnte ja nur drei Haltestellen weiter. Unbemerkt schlüpfte sie mit den anderen Leuten, die am Hintereingang einstiegen, in den Bus. Viele hatten so kleine Ausweise - es fiel eigentlich nicht auf, wenn man keine Fahrkarte besaß. Der Bus fuhr an, kaum dass sich Lilly auf eine der hintersten Bänke gesetzt hatte. Eine Station, zweite Station - gleich würde der Bus am Haus ihrer Oma vorbeifahren. Ihre Oma war immer sehr lieb. Die hatte mit Sicherheit nie ihre Tochter im Zimmer gefangen gehalten. Kurz sah sie die vielen bunten Blumen im Garten der Oma, und "Tiger", die Katze die der Oma gehörte, saß majestätisch auf einem der Eingangspfeiler und bewachte ihr Revier - dann kam schon die nächste Haltestelle.
Bis zur dritten Station war sie schon alleine gefahren – der Weg zum Haus der Oma war von dieser Station kürzer, als wenn man zuvor schon ausgestiegen wäre. Mit ihren Eltern war sie mit diesem Bus schon öfters in die Stadt gefahren und wußte, dass er unterwegs noch einmal hielt. Dort gab es aber auf der Strecke nur einen alten Bauernhof und sonst lag zwischen dem Dorf und der Stadt ein großer finsterer Wald. Die Haltestelle befand sich schräg gegenüber von diesem Bauernhof. Viele Pferde konnte man dort auf den Weiden beobachten – an manchen Tagen durften die Kinder sogar auf den Ponys reiten. Sie war auch schon mit ihrem Vater dort gewesen. Das war so eine schöne Zeit gewesen – damals, als ihre Eltern sie noch lieb hatten.
Langsam näherte sich der Bus dieser Haltestelle. Nur ein Fahrgast saß dort in dem Wartehäuschen auf der Holzbank. Neugierig blickte Lillyann-Sofie aus dem Fenster. Der Bus fuhr in die Haltebucht ein und fast wäre Lilly mit dem Kopf gegen den Fensterrahmen gestoßen als die Räder des Busses so plötzlich zum stehen kamen. Der Mann stand von der Sitzbank auf – Lilly blieb fast das Herz stehen vor Schreck. Das war einer der gefürchteten Kontrolleure. Wenn der sie ohne Fahrkarte erwischte wurde sie bestimmt nicht nur in ihrem Spielzimmer eingesperrt.
Gottseidank stand gerade eine Familie mit ihren beiden Kindern auf – sie wollten zu dem Bauernhof und der Busfahrer öffnete die hintere Tür, nachdem er in den Spiegel geblickt hatte und den Aussteigewunsch der Familie sah. Lilly sprang von ihrem Sitz auf und im nächsten Augenblick schlüpfte sie mit der Familie aus dem Ausstieg des Busses. Ihr Herz klopfte mächtig – Glück gehabt – dachte sie sich, während sie tief Luft holte. Nicht auszudenken, wenn der grimmig blickende Kontrolleur sie ohne Fahrkarte erwischt hätte.
Tatsächlich wollte die Familie, die ausgestiegen war, zu dem Bauernhof gehen. Der Vater der beiden Kinder hatte zwar Lillyann-Sofie schon längst bemerkt, wußte aber, dass viele Kinder hierher fuhren um sich die Tiere auf den Weiden anzusehen. Es gab eine Koppel mit vielen Ponys die der Besitzer unter Aufsicht von den Kindern reiten lies. Dafür halfen die Kinder immer ein wenig mit, den Tieren Futter zu bringen und durften sogar dabei zuschauen, wie die Kühe gemolken wurden.
Lillyann-Sofie war ein sehr intelligentes kleines Mädchen. Sie wußte ganz genau, dass der Landwirt sie fragen würde, warum sie alleine gekommen war. Der würde bestimmt ihre Eltern sofort informieren. Die beiden sollten sie ruhig ein wenig suchen – dann würde der Mutter das nächstemal bestimmt nicht mehr einfallen, sie bei so schönem Wetter einsam und verlassen im Zimmer einzusperren.
Ein Feldweg führte am Gehöft vorbei – genau in Richtung Waldrand. Hätte Lillyann-Sofie nicht so eine trotzige Wut im Bauch gehabt – nie und nimmer wäre sie alleine auf diesem Weg, der zu dem dunklen Wald führte, entlanggegangen. Aber je weiter sie von zuhause weg ging, umso größer würde die Freude der Eltern sein, wenn sie sie wieder fanden. Also stapfte sie immer weiter auf diesem ausgefahrenen Weg.
Es gab zwei breite Spuren von den Reifen des Traktors des Landwirtes, in der Mitte war ein Grasstreifen mit einem satten Grün. Rechts und links wuchsen ebenfalls hohe Gräser – an manchen Stellen hatte Lillyann-Sofie sogar Mühe, über diese Gräser hinweg die Landschaft erkennen zu können. Da wo die Räder des Traktors sich auf dem Feldweg bewegt hatten, konnte man nur noch vereinzelt ein paar spärlich sprießende Graspflanzen entdecken – die Räder hatten alles in Grund und Boden gemahlen. An vielen Stellen lugten die blanken abgewetzten Steine hervor – richtig poliert an ihrer Oberfläche von der vielen Benutzung des Weges.
Lillyann-Sofie wußte nicht, wie lange sie schon auf dem Feldweg gelaufen war, als dieser abrupt an einer riesigen Wiese endete. Erst jetzt wurde es ihr bewußt, dass von diesem Feldweg immer rechts und links kleinere Wege weggeführt hatten und je weiter sie gelaufen war, umso verwilderter schien der Weg zu werden. Auf dem letzten Stück gab es nur noch andeutungsweise die Reifenspuren des Traktors. Die Gräser waren immer höher gewachsen und manchmal fühlte Lillyann-Sofie an ihren Beinen, dass sie gegen etwas stacheliges gestoßen war. In ihren Strümpfen hatten sich viele seltsame runde Kugeln mit winzigen Stacheln auf der gesamten Oberfläche festgehakt die bei jedem Schritt in ihre Beine stachen.
Wie lange sie gebraucht hatte, um all die vielen kleinen Plagegeister aus ihren Strümpfen zu zupfen, wußte sie nicht zu sagen – auf jeden Fall hatte sie inzwischen mächtig Durst bekommen. Neben der Wiese floß ein kleiner Bach – das Wasser konnte man deutlich plätschern hören. Bestimmt war dieses Wasser trinkbar. Vorsichtig stapfte Lillyann-Sofie durch das hohe Gras – peinlichst darauf achtend, dass sich nicht wieder diese lästigen Plagegeister von Pfanzensamen in ihren Strümpfen festsetzten.
Tatsächlich, am Rand der Wiese gab es wirklich einen kleinen Bach – dahinter fing der Wald an. Schnell hatte Lillyann-Sofie eine flache Stelle gefunden, an der sie mit den Händen etwas Wasser schöpfen konnte. Das Wasser war richtig kühl und frisch. Gierig schlürfte sie das Wasser aus ihren zur Hohlform gehaltenen Händen. Mehr – sie war sehr durstig.
Hunger – das andere seltsame Gefühl im Bauch – das war der Hunger, der sich auch so langsam meldete. Auf der Wiese hatte sie nur viele bunte Blumen zwischen dem Gras gesehen. Aber über dem Bach – da gab es ein paar große Hecken mit riesigen Brombeeren. Und neben den Hecken auf dem Boden – das waren bestimmt leckere Heidelbeeren. Die zählten sogar zu ihren Lieblingsbeeren.
Daheim standen immer zwei oder drei Gläser mit Heidelbeermarmelade im Kühlschrank. Lillyann-Sofie war eine richtige Naschkatze und ihre Mutter schimpfte jedesmal, wenn sie mit dem Finger in das Marmeladenglas fuhr und dann den herausgeangelten Inhalt genüsslich vom Finger leckte. Einmal hatte sie draussen im Sandhaufen des Nachbars gespielt und gleich danach, ohne die Hände zu waschen, von dem Marmeladenglasinhalt genascht. Ihr Vater hatte wütend geschimpft, das sei unhygienisch – da könnte ja einem der Appetit vergehen. „Jetzt kannst du von mir aus das ganze Glas alleine leermachen“, hatte er ihr gedroht, „da will bestimmt kein anderer mehr etwas davon“. Das hatte sich Lillyann-Sofie nicht zweimal sagen lassen – flugs war sie mit dem Glas verschwunden. Mann oh Mann – war ihr danach schlecht geworden als sie das Glas alleine geleert hatte.
Kapitel 2 Die neue Freundin
Hunger! – Wie komme ich bloß über diesen Bach ohne hineinzufallen. Langsam lief sie dem Bachlauf entlang – da, da war eine Stelle mit großen Steinen die von dem Wasser umspühlt wurden. Dort konnte man den Bach gefahrlos überqueren. Die Steine lagen sehr dicht, also gar kein Problem über sie zu laufen.
„Miehauuu“ – zaghaft erklang ein Laut, den Lillyann-Sofie zwar irgendwie kannte, aber in einer anderen Tonart. Die Katze der Oma. Die hatte allerdings eine kräftige dunkle Stimme. Das was sie gerade aus der Wiese gehört hatte war eine helle, zaghafte Stimme gewesen. Sie spähte aufmerksam in die hohen Gräser der Wiese, konnte aber nichts entdecken.
„Mieeeauu“, ertönte es noch einmal – diesesmal schon deutlich näher als zuvor. Das war bestimmt eine junge Katze, die sich verlaufen hatte. „Mietz, Mietz, Mietz – na komm!“, lockte Lillyann-Sofie um die verlaufene Jungkatze aus der Wiese zu locken. „Mauuu“, ertönte es sogleich dicht neben ihren Beinen. Das war ja mal ein niedliches kleines Kätzchen. Neben Lillyann-Sofie stand eine junge Katze und blickte sie mit traurigen Augen an.
Das Kätzchen hatte ein ungewöhnlich langes Fell – gerade so wie ihre Stofftiere, und diese Augen waren vom schönsten Himmelblau das man sich vorstellen konnte. „Ja du bist aber mal eine süße kleine Maus“, entfuhr es Lillyann-Sofie, während sie das Fell der kleinen Katze streichelte. Sie fuhr mit dem Handrücken der Katze über den Kopf und spürte dass dies dem kleinen Hüpfer mehr als gefiel. Die Katze presste ihren Kopf richtig gegen ihre Hand. „Du bist wirklich eine süße Maus“, wiederholte Lillyann-Sofie ihre Bewunderung als sie das samtweiche Fell auf der Haut ihres Handrückens spürte.
Plötzlich schüttelte die Katze den Kopf, und sah Lillyann-Sofie mit einem seltsamen Blick an. „Ich bin doch keine Maus du dummes Menschenkind – siehst du denn nicht, dass ich eine Perserkatze bin?“. Irritiert sah sich Lillyann-Sofie um. Bestimmt saßen noch ein paar andere Kinder irgendwo versteckt im Gras, hatten zuvor mit der Katze gespielt, und machten sich jetzt einen dummen Scherz mit ihr. „Los kommt aus eurem Versteck – ich weis dass ihr da seid“, rief sie laut in Richtung des hohen Grases. „Noch mehr dumme Menschenkinder – sind alle gefährlich – da muß ich schnell weg – ganz schnell weg“, hörte Lillyann-Sofie die zarte Stimme von zuvor und sah wie ihr kleiner Findling eiligst in dem hohen Gras das Weite suchte. Das konnte doch nicht wahr sein – eine Katze die sprechen konnte – völlig unmöglich.
Lillyann-Sofie durchsuchte die ganze Wiese nach den anderen Kindern. Aber es waren wirklich ausser ihr keine Kinder da. Wer aber hatte da vorhin gesprochen? Kam dies vom Hunger? „Komm, Mietz, Mietz, Mietz, komm“, lockte sie jetzt ganz aufgeregt die kleine Katze. „Hab Angst vor dummen Menschenkindern“, hörte sie ganz leise irgendwo aus der Mitte der großen Wiese. „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben!“, rief jetzt Lillyann-Sofie in Richtung des Ortes, an dem sie die kleine Katze vermutete – immer noch ein wenig im Zweifel darüber, dass diese Stimme tatsächlich von der Katze kam.
Angespannt lauschte sie auf eine Antwort und suchte mit den Augen, die kleine Katze zu finden oder doch noch irgendwo versteckt in dem hohen Gras ein anderes Kind, das diese Stimme imitierte. Plötzlich konnte sie ganz leise hören, dass sich etwas in dem hohen Gras bewegte. Tatsächlich erschien die kleine Katze – und ganz vorsichtig trat diese aus dem Schutz des Grases hervor. „Kannst du wirklich sprechen“, fragte Lillyann-Sofie, gleich nachdem sie ihre neue kleine Freundin erblickte. „Alles dumme Menschenkinder – redet mit mir und fragt mich dann, ob ich sprechen kann – schrecklich dumme Menschenkinder“.
Dieses Kätzchen konnte tatsächlich sprechen – Lilly war mehr als verdutzt, aber es gefiel ihr gar nicht, dumm genannt zu werden. „Die Menschenkinder sind nicht dumm – es gibt normalerweise nur keine Katzen die sprechen können“, entgegnete Lillyann-Sofie jetzt fast schon ein wenig verärgert. „Nicht?“, fragte die kleine Katze völlig verblüfft, „also in meiner Familie können alle sprechen“. „Wenn du schon sprechen kannst, dann kannst du mir bestimmt auch deinen Namen verraten?“, wollte Lillyann-Sofie von ihrer neuen Freundin wissen. „Meine Mutter nennt mich Feeh“, verriet die Katze ihren Namen und wurde dabei ganz traurig.
„Aber Feeh, das ist doch ein sehr schöner Name, da brauchst du doch nicht so traurig zu sein“, versuchte Lillyann-Sofie die kleine Katze zu beruhigen. „Nein, es ist doch nicht der Name der mich so traurig macht. Es ist der Gedanke an meine Mutter die ich nicht mehr finden kann“, klärte die kleine Samtpfote auf. „Und welchen Namen hat dir deine Mutter gegeben?“, wollte die Katze noch wissen bevor Lillyann-Sofie ihr etwas entgegnen konnte. „Meine Eltern haben mir den Namen Lillyann-Sofie gegeben – sie nennen mich aber meist Lilly“. „Lilly – das ist auch ein schöner Name – so hieß einmal eine große Schwester von mir“, bestätigte die Samtpfote.
„Und, suchst du auch deine Eltern?“, wollte jetzt Feeh wissen. „Nein, nein – ich suche nicht meine Eltern“, entgegnete Lilly rasch, während ihr kurz der Gedanke kam, dass es eigentlich gerade umgekehrt war – die Eltern suchten bestimmt jetzt schon ihr kleines Mädchen und machten sich Vorwürfe, sie zu Stubenarrest verdonnert zu haben.
Feeh war immer noch sehr traurig: „Ich suche meine Mutter jetzt schon eine ganze Woche – sie ist bestimmt in den Wald gegangen und wenn ich sie nicht finde, wird sie von dem wilden Wolf der dort haust, gefressen.“ „Aber warum ist denn deine Mutter in den Wald gegangen anstatt daheim auf ihre Kinder aufzupassen“, wollte jetzt Lilly neugierig geworden wissen.
Feeh holte tief Atem bevor sie antwortete. „Ich habe zehn Geschwister und dachte, meine Mutter hat mich nicht so lieb wie all die anderen. Da bin ich weggelaufen und habe mich in der Scheune des Bauern versteckt. Meine Mutter hat mich gesucht und nach mir gerufen. Ich habe ihr nicht geantwortet und sie dachte wohl, ich sei in den Wald gelaufen und ging über den Bach um mich zu suchen. Als ich sie rufen wollte, war sie bereits so weit weg, dass sie mich nicht mehr hören konnte. Ich bin doch noch zu klein, um über diese Steine springen zu können und kann deshalb den Bach nicht überqueren. Wenn meine Mutter weiter in den Wald läuft um mich zu suchen, dann wird sie bestimmt von dem Wolf gefressen – und ich bin an allem schuld“.
Jetzt schluchzte Feeh bitterlich, denn es tat ihr sehr leid, dass sie ihre Mutter so in Gefahr gebracht hatte. Nie wäre ihre Mutter in den gefährlichen Wald gegangen, wenn sie sie nicht auch so lieb gehabt hätte wie all ihre anderen Kinder.
Lilly erschrak auf einmal sehr – was wenn ihrer Mutter bei der Suche nach ihrem Kind auch etwas passierte? An so etwas hatte sie noch nicht gedacht.
„Ich trag dich einfach über den Bach auf die andere Seite“, bot Lilly ihrer kleinen Freundin an. Feeh konnte ihre Freude nicht verbergen und sprang ganz aufgeregt hin und her. Lilly hob den kleinen Fellwuschel auf ihren Arm um ihn auf die andere Seite des Baches zu tragen. „Aber ja nicht fallen lassen – wir Perserkatzen lieben das Wasser überhaupt nicht“, wollte Feeh vor dieser Aktion doch ein wenig ängstlich sichergestellt wissen. „Ich mag kaltes Wasser ehrlich gesagt auch nicht so toll“, gestand Lilly ein.
Mit ihrer kleinen Freundin auf dem Arm hüpfte Lilly von einem Stein auf den anderen und kam Gottseidank sicher auf der anderen Seite des Baches an. Feeh hatte sich ganz eng in ihre Armbeuge gekuschelt und nur die beiden Augen lugten über dem Arm von ihr hervor. Man konnte richtig die Erleichterung fühlen, dass Feeh trockenen Fußes auf der anderen Seite des Baches angekommen war.
Auch Lillyann-Sofie war froh, am anderen Ufer des Bachs angelangt zu sein. Die kleine Perserkatze hatte vor Angst ihre Krallen ausgestreckt und sich richtig an ihrer Kleidung festgehakt. Diese Krallen waren wie winzige Nadeln und Lilly konnte an ihrem Arm fühlen, wie sich diese langsam in die Haut piekten. Jetzt da die Gefahr des fließenden Wassers überwunden war, setzte Lilly ihre neue Freundin vorsichtig auf dem weichen Waldboden zwischen den dort wachsenden Büschen ab.
Da gab es mächtig viele Heidelbeeren und auch die Hecken mit Brombeeren trugen mehr als genug Früchte. Lilly zupfte einige der Beeren ab und steckte sie gierig in ihren Mund. Feeh sah dem ganzen Treiben eine Weile zu und protestierte plötzlich: „Ja und ich? – ich habe doch auch mächtigen Hunger!“. „Aber – eine Katze ißt doch keine Beeren“, stotterte Lilly verlegen. „Eine Katze spricht auch nicht – Freilich ißt eine Katze Beeren – aber nur die, die ganz oben auf der Hecke wachsen“, kam postwendend die entrüstete Antwort von Feeh.
Tatsächlich waren die Beeren im oberen Bereich der Hecke viel größer und, als Lilly eine davon probierte, schmeckten auch sehr viel süßer als die anderen. Schnell pflückte sie für ihre Freundin eine Handvoll der süß schmeckenden Früchte und wollte sie gerade auf dem Boden ablegen. „Hey – das kannst du doch nicht machen – seid ihr Menschenkinder denn so Schmutzfinken dass ihr vom Boden essen müßt?“.
Vor Schreck wären die Beeren Lilly fast aus der Hand gefallen. Feeh klärte sie jetzt auf: „Das wird doch auf einem großen Blatt serviert damit die Beeren nicht verschmutzen“ Große Blätter gabs genügend – schnell riss Lilly eines von den Sträuchern ab und schichtete darauf die Beeren für die Mahlzeit ihrer vierfüssigen Freundin auf. Jetzt schien diese befriedigt zu sein. Am genüsslichen Schmatzen konnte man erkennen, dass das Essen jetzt anscheinend richtig „serviert“ worden war und es beiden gleichfalls schmeckte. Auch die Heidelbeeren waren eine wahre Delikatesse.
Als sich beide den Bauch vollgeschlagen hatten, grinste Lilly plötzlich ihre Freundin verschmitzt an. Etwas irritiert kam Feeh einer Lästerei von Lilly zuvor: „Du muß gar nicht so grinsen – mit deinem heidelbeerblau verschmierten Gesicht – da bekommt ja sogar der wilde Wolf Angst vor dir.“ „Schade, dass ich keinen Spiegel dabei habe – deine Mutter würde dich wahrscheinlich auch gerade mit einem Blaubären verwechseln“, prustete Lilly los.
Jetzt aber mußte Feeh ihre Mutter suchen – und dieses Menschenkind Lilly, würde ihr dabei helfen – zumindest hatte dieser Zwerg von Mensch versprochen, ihr zu helfen.
Lilly hatte im selben Moment, als sie Feeh ihre Hilfe zusagte, ihren eigenen Kummer über ihre "lieblose" Mutter so gut wie vergessen. Insgeheim nagte sogar schon in ihren Gedanken die Angst, ob sie nicht doch ein wenig zu heftig reagiert hatte und es besser gewesen wäre, doch das Zimmer aufzuräumen um mit den anderen Kindern spielen zu können. Allerdings - dann hätte sie ihre neue Freundin nicht getroffen.
Dass sie mit Feeh, der Samtpfote, bestimmt ein richtiges Abenteuer erleben würde, dessen war sie sich ab dem Augenblick bewußt, als sie ihre Hilfe zugesagt hatte. Dass es allerdings das größte Abenteuer ihres noch recht jungen Lebens sein würde, das wußte Lilly momentan allerdings noch nicht.
Autor: Werner May
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