Ich glaube, diese ganze Stadt hier ist eine einzige Reha-Klinik.
Bisher war ich der festen Überzeugung, dass sich das Therapieangebot in dieser netten, verschlafenen Kleinstadt auf die hiesige psychosomatische Klinik hoch oben am Berg beschränkt, in der ich als Patient weilte.
Ein kleiner Ausflug in ein italienisches Eiscafé im Ortskern sollte mich an diesem Nachmittag eines Besseren belehren.
Während ich gemütlich in eine Decke eingehüllt und durch einen ausladenden Sonnenschirm gegen die Feuchtigkeit geschützt im Außenbereich des besagten Eiscafés sitze und an einem Glas Grappa nippe, erhebt sich eine ungewöhnlich anmutenden Frau von einem der Nebentische und kommt an meinen Tisch.
Ob ich ihr wohl sagen könne, wie spät es sei, fragt sie mich und sieht mich dabei, glaube ich jedenfalls, durch ihre große schwarze Sonnenbrille fragend an. Es regnet und ist Zappenduster.
Ich antworte, sie schiebt ihren Ärmel hoch und entblößt eine Uhr ohne Batterie oder alternative nicht mechanische Antriebsmöglichkeit. Soll heißen, die Uhr ist komplett aus Holz.
Scheinbar sind ihr die Fragezeichen auf meinem Gesicht und mein etwas sparsamer Blick nicht verborgen geblieben, denn sie klärt mich sogleich sehr motiviert auf.
Dieses selbst erschaffene Zeitmessgerät sei ihre "Bibi-Blocksberg-Uhr", eigens - wozu verrät sie noch nicht - für sie von einer ihrer Töchter angefertigt.
In mir regt sich das dringende Bedürfnis zu erfahren, welche wirkliche Funktion dieses außergewöhnliche, zur Zeitmessung mir völlig ungeeignet scheinende Utensil erfüllt, was ich sie auch unvermittelt frage.
Sie entgegnet mir sehr direkt, dass sie mich auf den ersten Blick für intelligent genug hält, diese Frage selbst zu beantworten und fordert eine entsprechende Erklärung.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich das als Kompliment oder Affront auffassen soll und antworte brav.
Vielleicht benötige sie diese Uhr, um in Kontakt mit netten, unvoreingenommen Menschen zu gelangen, denke ich mir, formuliere den Satz aber, einfühlsam und anständig wie ich bin, etwas weniger zynisch.
Empört über meine Aussage erklärt sie mir, dass Sie diesen Grund ziemlich primitiv fände und ihre Uhr zu Höherem berufen sei.
Während sie die Zeiger per Hand auf die von mir genannte Uhrzeit dreht, erzählt sie mir von der Erleuchtung, die Ihr unlängst widerfahren sei.
Sie klärt mich über das Leben - sowohl ihres, als auch das Leben unter dem Damoklesschwert der Globalisierung - ausschweifend auf.
Die Uhr sei ein Teil ihrer Erleuchtung und entbinde sie von dem Druck, den die vom Menschen künstlich erschaffene Zeit auf sie ausübe. So ungefähr wolle sie aber dennoch wissen, wie spät es sei.
Ich versichere ihr, dass ich ihre Bedenken hinsichtlich der Globalisierung verstehe und teile, mir aber bezüglich ihrer eigenen Situation kein Urteil erlauben kann und möchte.
Ich dachte, das könnte sie eventuell aufhorchen und verstehen lassen, dass ich nach ihren langen, im Ansatz durchaus interessanten, aber doch sehr anstrengenden Ausführungen an einer weiteren Konversation nicht im Übermaß interessiert bin.
Sie ignoriert das, woraufhin ich sie daran erinnere, dass sie ihre "Bibbi-Blocksberg-Holzuhr" mittlerweile um zehn Minuten im Uhrzeigersinn verschieben sollte, um am Puls der Zeit zu bleiben. Sie tut das stumpf.
Meine implizierte Aufforderung, meinen Tisch zu verlassen und mir meine Ruhe zu gönnen, scheint sie weiterhin zu ignorieren. Ich fühle mich machtlos.
Nach einigen weiteren angestrengten Versuchen werde ich sie doch noch los.
Kurze Zeit später kommt ein grinsender junger Mann mit Farbe an der Hose vorbei. Offensichtlich ist er als Handwerker irgendwo im Ort tätig, denn der Besitzer des Eiscafés scheint ihn zu kennen.
"Alles klar?", fragt er ihn.
Dieser antwortet, ich zitiere wörtlich: "Aber immer, mein Bester. Ein schöner Tag heute" ... und zieht grinsend von dannen."
Waren das Therapiefortsetzungen zum Thema "Ein Gespräch nett aber bestimmt beenden" bzw. "Positives Denken?", frage ich mich und wurde ich soeben Teil eines anschaulichen, interaktiven Trainingsprogramms unter möglichst realistischen Alltagsbedingungen?
Begeistert und angerührt von so viel Engagement und Sendungsbewusstsein einer ganzen Ortschaft trinke ich meinen Grappa aus und verlasse, zudem leicht irritiert, die Örtlichkeit.
Ein wirklich schöner Tag heute!