Nachtzug
Michael starrte in die Nacht hinaus. Die Lichter einer ihm unbekannten Stadt glitten
in der Ferne vorüber. Regentropfen, die langsam die Fensterscheibe hinab rollten,
erinnerten ihn plötzlich an Tränen. Das eintönige Rattern und die trockene, muffige
Heizungsluft machten ihn schläfrig und er gähnte ausgiebig. Er saß allein im Abteil.
Sonst las er immer bei langen, nächtlichen Zugfahrten, aber diesmal verspürte er
keine Lust dazu. Er dachte an Anita.
Am Samstagvormittag war er in M. angekommen und sie hatte ihn vom Bahnhof
abgeholt. Die Begrüßung war wie immer herzlich ausgefallen: eine Umarmung, ein Kuss
auf die Wange, eigentlich schon ein Ritual, dem man keine Bedeutung mehr beimisst.
Ihre Freundschaft war nicht gerade besonders intensiv verlaufen und von ihm aus
auch nicht so richtig ernst gemeint, doch war er das Gefühl nie losgeworden, dass ihr
mehr an ihm lag, als sie gezeigt hatte.
Nach dem Mittagessen hatte sie ihm die Stadt gezeigt. Hier lebte sie also, und auch
er würde sich im nächsten Jahr hier zurecht finden müssen.
Schließlich waren sie vom Bummeln müde geworden und hatten beschlossen, den
Abend gemütlich in Anitas kleiner Studentenbude zu verbringen. Die Zeit war wie im
Fluge vergangen, als sie bei Kerzenschein über Studium, Arbeit, Gott und die Welt
geredet hatten. Erst als beiden schon fast die Augen zugefallen waren, hatte Anita
ihren Schlafsack heraus gekramt und ihn neben ihrem Bett ausgerollt. Sie hatte ihm
den Schlafsack nicht ohne eine kleine Diskussion überlassen, doch bald hatten sie sich
gute Nacht gesagt und beide versucht, Schlaf zu finden.
Aber plötzlich ist Michael hellwach und der Grund ist nicht das harte Lager. Aus
vielen kleinen Geräuschen schließt er, dass es Anita ähnlich geht.
„Was ist mit dir?“ fragt er.
„Nichts!“ sagt sie.
Er richtet sich auf und blickt, gegen das Bett gelehnt, in ihr Gesicht. Sie schaut ihn ein wenig scheu, ängstlich, aber auch fragend, ja flehend an. Zitternd vor Kälte und
ziemlich ratlos schält er sich aus dem Schlafsack und setzt sich auf die Bettkante.
Wieder fragt er: „Was ist mit dir?“, aber diesmal etwas eindringlicher.
Sie antwortet nicht, aber plötzlich spürt er ihre Arme um seinen Hals und sanft aber
bestimmt zieht sie ihn zu sich hinunter. Nicht einmal eine Ahnung von Widerstand
regt sich in ihm, obwohl er genau weiß, dass es richtig wäre, ihr zu widerstehen...
Als sie endlich wach geworden waren, war es schon fast Mittag. Sie hatten
beschlossen auf das Frühstück zu verzichten und stattdessen gleich in die Pizzeria zu
gehen. An diesem Tag hatten sie nicht mehr viel geredet und als Anita ihn zum
Bahnhof gebracht hatte, war auch der Abschied herzlich ausgefallen: Eine Umarmung,
ein Kuss auf die Wange ...
Der Zug hielt. Eine quäkende Stimme aus einem Lautsprecher teilte den Fahrgästen
mit, dass der Zug S. erreicht habe und hier enden würde.
Michael stieg ohne Eile aus. Langsam schritt er durch die Bahnhofshalle zum Ausgang.
Ein Blick nach draußen zeigte ihm, dass es weiterhin regnete und stürmte. Der Himmel
hatte dieses verhangene, zwielichtige dunkle Grau, das die Nähe eines neuen trüben
Tages zeigte.
Unschlüssig blieb er im Ausgang stehen und beobachtete das Treiben auf dem
Bahnhofsvorplatz. Er erblickte Menschen, die mit allen Mitteln versuchten, dem
beißenden Wind und dem kalten Regen so wenig wie möglich Tribut zu zahlen...
Auf einmal schlägt er den Mantelkragen hoch und tritt entschlossen aus dem
Bahnhofsgebäude. Entschlossen, sich nicht von Regen und Sturm beeindrucken zu
lassen.