II/IV
Er war alleine auf dem Radweg und kam überraschend gut voran. Weit und breit war kein Mensch zu sehen, nur der Wald rauschte leise. Ab und zu wurde die Stille durch ein vorbeifahrendes Auto gestört. Links, auf dem Gelände des Möbelwerkes, konnte Tom eine riesige rote Rangierlok sehen, deren schwere Dieselmaschine sonor zu dröhnen begann.
Er hatte den ersten Kilometer seines Weges fast geschafft als, am Ortseingang, der Reifen von der Felge rutschte und sich fest um Die Achse legte. Das Hinterrad seines Fahrrades blockierte. „Das gibt’s doch nicht, läuft den heute alles schief?“ Tom wurde sauer und versuchte das Rad freizubekommen. Aber was er auch versuchte, das Hinterrad drehte sich nicht mehr. Nun wurde es für Tom richtig anstrengend, denn er musste das Fahrrad jetzt anheben um vorwärts zu kommen. „Hätte ich doch nur die Tragriemen an der Schultasche gelassen.“ Am Hinterrad angehoben wurde sein Fahrrad instabil und es kostete Tom viel Mühe vorwärts zu kommen. Nun wurde es auch für ihn zu warm. Er verfluchte Gott und die Welt und jammerte still vor sich hin, aber er gab nicht auf und marschierte, nun viel langsamer geworden, weiter. Tom dachte nach. Er dachte viel nach, über die Menschen, die Welt, über alles. Tom hatte sich immer auf sein Fahrrad verlassen können. Er bekam es, irgendwann einmal, von seinen Eltern geschenkt, und es wurde von ihm immer in Schuss gehalten. Es hatte ein Tachometer, eine batteriebetriebene Hupe und eine Torpedo 3 Gangschaltung. Der Reifen platzte, weil Tom ihn viel zu hart aufgepumpt hatte. Tom und Wolli fuhren oft in den Wald. Dort war ein hoher Luftdruck im Reifen, wegen der vielen spitzen Steine auf den Waldwegen, sehr vorteilhaft. Der Wald übte einen ganz besonderen Reiz auf Tom aus. Dort war es dunkel und ruhig. Tom liebte diese Ruhe und Geborgenheit. Oft kletterte er auf riesige Tannen am Waldrand, die größten waren ihm gerade recht, bis in die höchsten Wipfel. Dort oben, in gut 20 Meter Höhe, herrschte meistens starker Wind und die Tannen wiegten sich hin und her. Tom fühlte sich jedes Mal wie ein König, wenn er dort oben herumturnte. Nie verschwendete er einen Gedanken daran, dass es gefährlich sein könnte in der Spitze der Tannen herumzuklettern, denn er liebte seine Tannen. Ja, er vertraute Ihnen. sie gaben Ihm das Gefühl von großer Sicherheit. Manchmal sprach er sogar mit seinen Tannen, und sie schienen ihm zu sagen: „Hallo Tom, willst du wieder klettern? Na komm, steig hoch wir passen auf dich auf!“ Müßig zu sagen, dass Tom nie etwas passierte.
Nur einmal wäre es fast schief gegangen. Tom war mit Wolli in einem fremden Teil des Waldes unterwegs, um auszukundschaften, was es dort alles Spannendes zu entdecken geben würde. Sie entdeckten einen, an eine riesige Eiche angelehnten 3-stufigen Hochsitz. So etwas hatten die beiden noch nie zuvor gesehen. Also wurde der Hochsitz genauestens untersucht. Die Hochsitze die die beiden kannten standen auf vier Pfählen und waren maximal 3. Meter hoch. Dieser aber bestand aus drei Ebenen, wobei die einzelnen Ebenen mit Leitern verbunden waren. Und, er war mindestens 10. Meter hoch. „Los geht’s!“ Wolli begann die erste Leiter hochzuklettern, aber bereits bei der dritten Sprosse krachte es, und Wollis Fuß trat in leere. „Mist“, Wolli kletterte vorsichtig zurück. „Der ist ganz schön morsch!“ Nun versuchte Tom die Leiter hochzusteigen. Im Gegensatz zu Wolli, trat er nicht in der Mitte der Sprossen auf, sondern rechts und links, wo sie vernagelt waren. Das funktionierte ohne Probleme bis er die oberste Plattform erreicht hatte. „Das ist aber verdammt hoch.“ Tom hielt sich unsicher an den verfaulten Resten eines Geländers fest, und bekam weiche Knie. Er sah sich um. An einer Seite war der Stamm der Eiche, die noch viel weiter in die Höhe ragte. Gegenüber reichten kleinere Tannen an das marode Geländer heran. Plötzlich stand Wolli neben Ihm und die Plattform begann bedrohlich zu schwanken. „Hier können wir springen“, sagte Tom und deutete auf die Tannen. „Wie? Springen!?“ Wolli begriff nicht was Tom vorhatte. Tom begann das Holz des Geländers vollends abzureißen, was nicht schwer war, es zerbröselte ihm regelrecht unter den Händen. Wollis Unterkiefer klappte herunter, als er endlich begriff was Tom vorhatte. Tom nahm einen kurzen Anlauf, und sprang in eine der Tannen die am nächsten stand. Dort klammerte sich fest und seine Füße fanden Halt. „War ganz leicht!“ rief er Wolli übermütig zu, der sich nun seinerseits daran machte ebenfalls zu springen. Tom beeilte sich mit dem herunterklettern, denn er kannte diese Tanne nicht, sie sprach nicht mit ihm. Aber diese Warnung seines Unterbewusstseins überhörte er, was sich wenig später, als fataler Fehler herausstellen sollte. Nun sprang Wolli, und auch er legte eine überzeugende Landung hin. Hochsitz hoch, Anlauf nehmen und abspringen. Eine ganze Weile ging es in diesem Rhythmus weiter, bis das Unglück schließlich seinen Lauf nahm. Tom war gerade in der Tanne gelandet, als es laut und unheilvoll knirschte. Die Spitze der Tanne hielt der ständigen Belastung einfach nicht länger stand und brach, circa einen Meter unterhalb von Toms Füßen, ab. Was nun folgte, ging blitzschnell. Sich an die abgebrochene Spitze, etwa in der Größe eines gängigen Weihnachtsbaumes, der Tanne klammernd, stürzte Tom in die Tiefe. Durch die Erkenntnis, unausweichlich abzustürzen geschockt, verlor Tom kurz sein Bewusstsein. So bekam er nicht mit wie er durch die Tanne nach unten rauschte.
Glücklicherweise waren die unteren Tannenzweige stark genug, Toms Sturz zu verlangsamen. Hier hatte er zum ersten Mal riesiges Glück. Kurz vor dem Aufschlag kam Tom, den Rest der Tannenspitze noch immer fest umklammernd, wieder zu sich. Er sah den Waldboden auf sich zu rasen, drehte sich instinktiv auf den Rücken, und schlug dann hart auf. Durch den Aufschlag wurde Toms Atemluft mit brutaler Gewalt aus seinen Lungen gepresst, Er sah Sterne und konnte nicht mehr atmen. „Wird gleich besser“ dachte er, und blieb erst einmal ruhig liegen. Doch bereits wenige Sekunden später begannen seine Lungen zu rebellieren, sie schrieen nach Luft. Sosehr sich Tom auch bemühte, seine Atmung versagte. Obwohl der Atmungsreflex funktionierte und sein Zwerchfell zuckte, konnte er nicht atmen. Allmählich wurden seine Augen trübe, er spürte nur noch, wie er plötzlich hochgerissen wurde und sein Rücken zu schmerzen begann. Einen Augenblick später sog Tom mit lautem Schnaufen den dringend benötigten Sauerstoff ein.
Wolli hatte Toms Absturz beobachtet und war daraufhin sofort - vorsichtig - wieder von der dritten Plattform nach unten geklettert. Wolli wusste genau was mit seinem Freund geschehen war, und er kannte auch den Grund weshalb er nicht mehr atmen konnte. Er zog Tom hoch, rammte Ihm sein Knie in den Rücken und überdehnte auf diese Weise kräftig die Wirbelsäule seines Freundes. Hier hatte Tom zum zweiten Mal Glück. Er wäre wohl erstickt, wenn Wolli nicht sofort reagiert hätte.
Tom blieb noch einige Minuten benommen im weichen Moos liegen und checkte Stück für Stück seinen schmerzenden Körper durch. Arme? Okay. Beine? Okay. Kopf? Noch dran! Aber sein Gesicht fühlte sich wund an. Kein Wunder, waren doch während des Sturzes die Tannenzweige wie Peitschenhiebe, immer wieder in sein Gesicht geschlagen. Tom stand auf und schaute Wolli dankbar an „Mann, das hätte schief gehen können.“ „Glücklicherweise bist du im weichen Moos aufgeschlagen“, auch Wolli war erleichtert. „Das hätte wirklich schlimm enden können.“ Tom sah sich die Stelle seines Aufschlages nochmals an und bekam erneut weiche Knie. Nur wenige Zentimeter entfernt ragte ein alter Baumstumpf aus dem Moos, der ihm mit hoher Wahrscheinlichkeit die Wirbelsäule gebrochen hätte, wäre er dort aufgeschlagen. Die beiden beschlossen das Glück heute nicht noch weiter herauszufordern, und machten sich auf den Heimweg.