Am Freitag holte Stefan schließlich Mannie sowie dessen Futter und Katzenklo ab. Begeistert war wirklich etwas anderes, denn sein Blick beim Anblick des Plastikkastens voller Streu war leicht verzerrt vor Ekel. Anna lachte herzhaft bei dem Anblick, auch, wenn sie schnell etwas ausser Atem geriet und deshalb hustete. Doch so hatte sie immer gelacht und es fiel Stefan nicht auf. Kurz, bevor Stefan mit dem schweigendem Kater gehen wollte, stoppte Anna ihn nochmal kurz. "Hast du Sonntag etwas vor?" fragte sie nach und der junge Mann drehte sich verwundert um. "Sonntag? Nein. Wieso?" Anna grinste ihn an und erwähnte, dass sie Lust auf Kino hätte. Stefan schüttelte leicht grinsend den Kopf, ehe er nachfragte, welchen Film sie sich denn vorgestellt hätte. Anna zuckte mit den Schultern, ehe sie meinte, dass sie etwas schnulziges sehen wolle. Stefan lachte laut, hasste Anna doch solche Filme. "Lach nicht, ich will einen Film sehen, über den ich mich aufregen kann. Ich brauch diese Power, um das in Tatkraft umzuwandeln!" sagte sie und das doch tatsächlich völlig glaubwürdig. Stefan lachte dennoch weiter, ehe er aber zustimmte. Beide hatten sie Samstag noch bis Mittags auf die Kinder aufzupassen, insofern würden sie morgen entscheiden, in welchen Film sie gingen. Und so verließ Stefan die Wohnung seiner besten Freundin mit einem Katzenkorb, einem Katzeklo und einem Rucksack voller Katzenfutter. Und Anna wandte sich kurz dem Zimmer ihres Vaters zu. Doch statt direkt mit dem Streichen anzufangen, schrieb sie erst noch zwei Briefe, die sie nach der Fertigstellung auch direkt zum Briefkasten brachte, der nur dreizig Meter vom Haus weg war. Sie fühlte sich direkt erleichtert und so begann sie - wieder daheim - das bläuliche Zimmer ihres Vaters in einem dunklem Rotton anzustreichen.
Samstag kam und sie hatte auch schon die ersten zwei Wände fertig. Stefan sah sich zuversichtlich, dass er dann wohl nach dem Kinobesuch den Kater wieder abliefern könnte und Anna spaßte darüber, dass Stefan Mannie offenbar nicht leiden könnte. Sie neckten sich ein wenig im Pausenraum, ehe sie die Kinoprospekte durchsuchten und schließlich bei einem Film namens "Zwanzig Jahre" fündig wurden. Ein Paar trennte sich und findet sich nach zwanzig Jahren wieder. Und da nichts von witzig oder lustig in der Beschreibung stand, wird es wohl ein Film sein, der auf die Tränendüse drücken soll, also perfekt. Stefan jammerte schon ein wenig, 89 Minuten Rumgeheule ertragen zu müssen, Anna lachte nur. Dann gingen sie raus in den Hof, wo ihre Kinder mit Fahrrädern, Eimerchen voller Sand und Seilchen spielten und nach Herzenslust tobten. Und für einen kurzen Moment erwachte in Stefan ein seltsames Gefühl. Ein Gefühl, dass eine Wärme in seiner Brust erzeugte. Er schaute kurz unsicher zu Anna, welche den Blick bemerkte und ihn fröhlich wie eh und je anlächelte. Er erwiderte es und merkte nur, wie das Gefühl sich verstärkte. Es war seltsam, sie kannten sich seit 17 Jahren und es waren immer nur Gedanken an seine beste Freundin gewesen. Und aus irgendeinem Grund, sei es wegen den Kindern, der durchgestandenen Trauer um Richard oder vielleicht sogar wegen diesem dumpfen Film, es waren...zärtliche Gefühle. Doch sie waren zu ungewohnt, zu unheimlich und so ignorierte Stefan diese. Doch es war nicht aus Angst, abgewiesen zu werden. Er kannte Anna. Er war sich sicher, sollte er ihr sowas sagen, sie würde es ihm zuliebe zumindest ausprobieren. Doch dazu wollte er sicher sein, dass er nicht gerade nur eine Einbildung hatte. Doch irgendwo...gefiel ihm der Gedanke...von ihm...und Anna...als Paar.
Sonntag kam und Stefan ging mit einem glücklichem Lächeln zu Anna. Er hatte den ganzen Samstag und auch den ganzen Morgen über seine Gefühle nachgedacht und war sich sicher, dass sie sich aus irgendeinem Grund verändert hatten. Und obwohl es so gar nicht abgemacht war, sah er ihren Kinobesuch für sich bereits als ein Date, obwohl sie schon sehr oft im Kino waren. Anna, von seiner Freude über den Film überrascht, lachte ihn erstmal ein wenig aus, hatte er doch am Vortag darüber gejammert. Stefan zuckte nur grinsend mit den Schultern und schaute auch mal neugierig in Richards ehemaliges Zimmer. Er glaubte es kaum, aber es war fertig. Anna musste bis spät in die Nacht gearbeitet haben. Die Wände waren zinnoberrot, die Decke weiß. Und am Fenster, wo Richards Bett gewesen war, war ein kleines Tischen, auf dem eine Kerze und Fotos von ihm standen. Sonst war da nichts, doch es wirkte so friedlich, so schön. "Gefällts dir?" fragte Anna, die sich auf seine Schulter lehnte. Stefan nickte nur, ehe er scherzhaft meinte, dass Mannie dann wohl ab heute wieder ihr gehöre. Anna lachte nur, ehe sie sich ihre Jacke schnappte und beide gingen. Sie fuhren mit dem Bus, denn beide waren keine großen Freunde von unnötigem Autofahren. Stefan sah auf Anne neben ihm, sie war ein bisschen kleiner als er und durch ihre helle Haut sah sie aus, als wenn ihr furchtbar kalt wäre. Das wäre wohl auch möglich, so heiß es bei der Beerdigung auch gewesen war, es war Herbst. Und die windigen kalten Tage waren schnell gekommen, jeder nahm mittlerweile wenigstens zur Vorsicht eine Jacke mit. Er zögerte kurz, ehe er seinen Arm um sie legte, was Anna zwar mit Erstaunen bemerkte, es aber so ließ und sich etwas an ihn lehnte. Und Stefan hoffte nur, dass sie nicht seinen beschleunigten Herzschlag spürte.
Schließlich standen sie im Vorsaal des Kinos. Es war eigentlich nur ein recht kleines Kino, gerade mal fünf Säle gab es. Sie kauften die Karten und verzichteten auf Getränke und Snacks, gingen einfach direkt auf ihre Plätze. Sie saßen fast in der Mitte, also im Grunde der perfekte Platz. Anna schien ein wenig unruhig, vermutlich bereute sie es, in so einen Film gegangen zu sein, denn sie sah sich immer wieder um und seufzte ein wenig. "Noch können wir auch in diesen Film mit den zehn Explosionen pro Minute gehen." meinte Stefan aus Spaß und Anna schmunzelte und beruhigte sich auch sichtlich. Sie lehnte sich zurück und starrte den Vorhang an. Es dauerte lange, bis dieser sich hochzog und selbst dann kamen noch bestimmt zehn Minuten Werbung. Stöhnend lehnte sie ihren Kopf auf Stefans Schulter und meckerte über diese Prozedur, worüber Stefan nur leise lachte. Viele Menschen waren im Saal nicht, vielleicht zwanzig. Und alle saßen verstreut, insofern bemerkte keiner, dass sie leise miteinander sprachen. Doch dann begann der Film und auch Stefan und Anna schwiegen und starrten auf die Leinwand. Doch Anna beließ den Kopf auf Stefans Schulter und auch das Stefan zögernd ihre Hand in die seine nahm, störte sie nicht. Mittlerweile war sich das Paar, welches Charliene und George nannte, wieder begegnet, als sich Stefan doch dazu durchrang, es zu sagen. "Du, Anna?" fragte er leise und sie antwortete mit einem fragendem Geräusch. "Wenn wir aus diesem Film wieder raus sind, würde ich dir gern was sagen." Annas Kopf bewegte sich etwas, vermutlich versuchte sie, aus ihrer Position sein Gesicht zu sehen. "Was sagen?" fragte sie nach und Stefan nickte angespannt. Anna schwieg einen Moment, ehe sie meinte, dass es wohl etwas wichtiges sein muss, dass er es nicht jetzt sagen will. Sie versuchte zweimal, ihn dazu zu kriegen, es einfach während dem Film zu sagen, doch Stefan weigerte sich und so beließ Anna es dabei, doch nicht ohne etwas schmollend zu kommentieren, dass Stefan sehr stur wäre. Und damit schwiegen die Beiden. Der Film war wirklich Herzschmerz pur und man hörte sogar im Saal die ein oder andere Dame schluchzen.
Doch dann endete der Film endlich, natürlich fand eine Superhochzeit statt, wo Herr Bräutigam seiner neuen Frau versprach, sie nie wieder gehen zu lassen. Dann kam endlich der Abspann und die Ersten standen auf. Stefan wollte auch, doch Annas Kopf lehnte immer noch auf seiner Schulter und rührte sich auch nicht da weg. Sie war eingeschlafen, ganz offensichtlich war der Plan, dass sie sich über den Film aufregte, daneben gegangen. Und so blieb er sitzen und tat so, als wenn er den Abspann zuende sehen wolle. Neben ihm und Anna waren noch drei Leute da, die vermutlich misslungene Szenen erwarteten, die gerne mal während dem Abspann kamen. Doch dann endeten auch die Aufzählungen an Schauspieler, Musikern und wer noch so mitgearbeitet hatte und auch die Letzten standen auf. Und so wollte Stefan Anna gerade wecken, als ein gellender Schrei durch den Saal drang. Eine Frau, die wohl sonst immer die Tür aufhielt oder Ähnliches, rannte rein, um zu fragen, was denn los wäre und die schreiende Frau zeigte auf ihn. Stefan verstand gar nicht was los war. Sofort rannte die Angestellte auf ihn zu und fragte, ob alles in Ordnung wäre, was er bejahre und dann sah man langsam, wie ihr panischer Blick verschwand. Und einem Blick wich, der pures Entsetzen ausstrahlte. Der junge Mann verstand nicht, worum es ging und sah an sich herab. Sein Hemd war blutrot. Im wörtlichen Sinne. Und mit einem Schlag kam auch ihm die grausame Ahnung. "Anna! Anna!" schrie er und schüttelte die leblose Frau, die einen Blutrinnsaal aus dem Mund hatte, der wohl das Hemd versaut hatte. Doch Anna rührte sich nicht. Ein Notarzt traf schnell ein, versuchte noch Wiederbelebungsmaßnahmen, doch es war zu spät. Anna war tot.
Am Montag kam dann die grausame Erkenntnis: ein Brief. Ein Brief von Anna. Darin schrieb sie, dass es ihr leid täte, dass sie wüsste, es würde sehr schwer für Stefan sein, zu verstehen. Und sie verabschiedete sich von ihm. Mit einem PS hängte sie noch an, dass er gut auf Mannie aufpassen solle. Was am Sonntag noch wie ein unverständlicher Schicksalsschlag ausgesehen hatte, war nun als eine offenbar schon vorgeahnte Sache entlarvt. Sie hatte gewusst, dass sie irgendwann am Sonntag sterben würde. Es war ihr klar gewesen. Sie wollte so sterben. Es war zu viel für Stefan, er verkroch sich in seiner Wohnung und ging auch nicht zur Arbeit. Er reagierte nicht auf Türklingeln, noch auf das Telefon. Er verkroch sich und weinte um seine beste Freundin, um den Menschen, den er doch tatsächlich so kurz vorher erst zu lieben begonnen hatte und der er es nie sagen konnte, obwohl sie es hören wollte bevor es zu spät war. Hätte er es doch einfach im Kinosaal gesagt. Doch alles hätte und wäre war zu spät, er konnte es nicht ändern, sie würde es nicht mehr hören. Seine Verzweiflung nahm Überhand und sperrte ihn in seinem Kopf ein, zwang ihn, immer wieder die blutende, leblose Anna zu sehen. Erst, als Polizisten seine Tür eintraten, erwachte er daraus. Da man ihn lange nicht ein- und ausgehen sah, befürchteten die Nachbarn, er wäre tot und so rief man die Polizei, die das mit Gewalt nachprüfte. Der apathische junge Mann wurde ins Krankenhaus gebracht und versorgt, doch niemand konnte ihm wirklich helfen. Bis ein gewisser Herr Volhard ins Krankenzimmer trat.
Er war Notar und hatte auch einen Brief bekommen. Ein Testament. Er gehörte zu jenen, die wieder und wieder angerufen hatten ohne durchzukommen. Nun, da Stefan nicht weglaufen, sich nicht verstecken konnte, konnte er auch mit ihm reden. "Sind sie Stefan Nüsslein?" fragte er nach, doch Stefan reagierte nicht, es sah aus dem Fenster. "Ich habe einen Brief von Frau Streißler bekommen. In dem sie über sie schreibt." sagte er weiter und langsam drehte sich Stefans Kopf zu dem Mann. Er war relativ jung, vielleicht Mitte Dreizig, er hatte schwarze Haare und braune Augen, trug einen schicken Anzug und hatte einen Aktenkoffer dabei. "Von Anna?" fragte Stefan mit brüchiger Stimme nach und der Mann nickte. "Sie hat mir ihr Testament geschickt, einen Tag vor ihrem Tod. Sie sind als Alleinerbe ausgeschrieben." Stefans Blick ging wieder zum Fenster, es interessierte ihn nicht, ob er von Annas Tod in irgendeiner Art und Weise profitierte. Das brachte Anna selbst nicht zurück. Der Mann ließ sich vom schwindenden Interesse jedoch nicht beirren. "Sie bekommen die Wohnung, den Kater, die Innenausstattung sowie das gesamte Vermögen der Familie." zählte der Mann weiter auf, Stefan dagegen zählte nur die Spatzen, die in den Ästen hinter dem Fenster rumhüpften. "Und sie hat den Wunsch, dass sie ihre Krankenakte einsehen dürfen und sollen." Sofort war Stefan wieder bei dem Mann und drehte langsam den Kopf zu ihm. "Krankenakte?" fragte er nach und der Mann nickte. "Ihre Freundin war sehr schwer krank. Sie hat eine traurige Akte seit sie 10 Monate alt war. Nur ich, ihre verstorbenen Eltern, ihr Hausarzt und sie selbst durften diese bisher einsehen und hatten volle Kenntnis. Sie hat allerdings ihrem Arzt die Befugnis gegeben, dass auch sie sie nun sehen dürfen." Stefan starrte den Notar irritiert an. "Ich weiß, was sie hatte. Sie hat mir ihr Medikament gezeigt. Es ist gegen Bluthochdruck." antwortete Stefan leise und der Notar seufzte kurz, wissend, dass der Junge vor ihm nicht den blassesten Schimmer hatte. "Bluthochdruck wäre eine Wohltat gewesen gegen das, was ihre Freundin plagte, glauben sie mir. Ich lasse meine Karte da, wenn sie wieder fit sind, kommen sie vorbei. Ich habe die Akte bei mir auf dem Tisch, sie dürfen sie sich in aller Ruhe ansehen." Und damit ging der Mann, ließ einen verwirrten Stefan zurück.
Was Stefan las, war entsetzlich und traurig zu gleich. Erst jetzt war ihm klar, warum Richard mit aller Kraft versuchte, so viel Zeit wie möglich mit Anna zu verbringen. Sie war schon für tot erklärt, als sie gerade erst geboren war. Sie war mit dem Eisenmenger-Syndrom geboren worden. Einem Loch zwischen den Herzkammern. Einem Überdruck im rechten Herz und in der Lunge. Was darin endet, dass das Blut in die umgekehrte Richtung fließt, von Rechts nach Links statt von Links nach Rechts. Man hatte früh Probleme gesehen, doch es war schon zu spät, als man das Syndrom erkannt hatte. Es war bereits zur Eisenmenger-Reaktion geworden. Einem Krankheitsbild, dass nur mit einer Herz-Lungen-Transplantation heilbar wäre. Etwas, das schon so gefährlich ist und auch schwer zu bekommen, denn Herz wie auch die Lungen müssen beide verfügbar und auf den Menschen zugeschnitten sein. Anna hatte dahingehend Pech gehabt. Früher oder später wäre sie an Herzversagen oder einer Lungenentzündung gestorben. Doch in diesem Fall war es kein Herzversagen, keine Lungenentzündung, keine Hirnabszesse, keine Nierenstörung. Es war Lungenbluten. Menschen mit der Eisenmenger-Reaktion können um das 24. Lebensjahr herum Lungenbluten bekommen und sterben fast immer daran, wenn sie es bekommen. Anna hat es wohl bemerkt, als sie am Vortag fast unaufhaltsames Nasenbluten bekam. Im Kino hatte sie kaum sichtbare Nasenpropfen gehabt, damit Stefan keinen Verdacht schöpft. Letztendlich starb sie daran und das überschüssige Blut war in Bauchraum und aus dem Mund geflossen. Sie hatte nie eine Chance gehabt, älter als fünfzig zu werden. Genau wie ihre Eltern. Stefan brach in hemmungsloses Weinen aus und Herr Volhard tröstete ihn. Stefan ging mit gesenktem Kopf nach Hause, stand eine Weile unschlüssig in der Haustüre, ehe er sich auf sein Sofa fallen ließ. Ein leises Mauzen ließ Stefan aufblicken. Lord Manchester, von Anna immer mit Mannie abgekürzt, stand vor dem Sofa und schaute mit schrägem Kopf zu ihm hoch. Stefan war klar, dass Mannie durchaus wusste, was los war. Mit zitternder Hand strich er dem Kater über den Kopf, welcher direkt zu schnurren begann und mit aufs Sofa sprang. Er legte sich über seinen Kopf, rieb sich an diesem und leckte seine Haare ab. Und Stefan weinte nur noch mehr. Um seine Freundin. Seine Fast-Geliebte. Sein einziger Sonnenschein in dieser Welt. Und Mannie tröstete ihn und ließ ihn weinen. Das musste er auch, heute durfte er trauern, doch morgen musste er stark sein. Für die Kinder. Sie hatten größtes Vertrauen in Stefan und wenn dieser fix und fertig wäre, dann würde das schlecht für die Kinder sein. Stefan hatte keine Kinder. Dabei liebte er diese so sehr. Es war wohl wenig verwunderlich, dass ein junger Mann im Alter von 25 Jahren noch kinderlos war, doch...für Stefan...sah es bezüglich Kinder...düster aus. War er doch impotent geboren worden...