Es war Nacht und das unruhige Meer tobte um die Insel Anima. Vögel mieden in dieser Nacht aus unbekanntem Grund bestimmte Stellen dieser Insel und viele der Baum- und Palmenspitzen bogen sich mit der Richtung des Windes. Weit im Norden der Insel stieg Rauch aus dem Vulkan und sämtliche Dörfer der einheimischen Stämme trauten sich nicht auch nur ein Licht zu entzünden. Außer dem unruhigen Lauten von Kleintieren und Vögeln erklang im dichtesten Geäst nahe der südlichen Küste der Insel ein Echo. Je mehr man dem Geräusch folgte, so konnte man es als den wütenden Schrei einer Raubkatze deuten. Ein Schreien und Fauchen klang immer wieder auf und verhallte wieder. Sogar Klopf- und Stoßgeräusche waren zu vernehmen… es war ein Luchs in einer Falle. Dieser versuchte immer wieder aus ihr zu entkommen und schaffte es nicht, da sein hinteres rechtes Bein darin eingeklemmt war. Die Falle war aus Holz und hatte zwei Klemmen, welche das Bein nicht verletzten, aber es festhielten. So sprang der Luchs erneut auf und krallte sich mit den Vorderpfoten an einen Baum in seiner Nähe, rutschte ab und landete wieder auf den Boden. Dieser Vorgang brachte das Tier zur Verzweiflung, doch es wollte nicht aufgeben.
Nach unzähligen weiteren Versuchen hielt das Tier schließlich inne und schnaufte erschöpft vor sich hin. Kraftlos sank es auf den vorderen Pfoten, doch kaum berührte es mit dem Körper den Boden, nahm es eine Bewegung hinter sich wahr und sprang ruckartig auf. Die Ohren waren gespitzt und die scharfen Luchsaugen waren bereit, jede kleine Veränderung in den Gebüschen einzufangen. Und da war es!
Etwas bewegte sich mit sehr hoher Geschwindigkeit durch das Geäst, jedoch waren nur die Geräusche die es verursachte, zu vernehmen. Sehen konnte man nichts. Ungläubig drehte der Luchs seinen Blick in alle Richtungen. Konnte er seinen Sinnen nicht mehr trauen? Die Büsche und von Bäumen abhängende Zweige raschelten immer noch kettenartig durch den Wald, etwas war dort. Und plötzlich erklang ein Schrei! Es war der eines Mannes und kam aus genau der Richtung, wo dieses Ding lang lief. Wenn es etwas war, das es auf die Leben anderer abgesehen hatte, so war der Luchs auch nicht mehr sicher und war sich dessen bewusst. Trotz seines Zustandes nahm es seine letzten Kraftreserven zusammen, drückte sich vom Boden ab und sprang, als wolle er seinem schlimmsten Alptraum entkommen.
Klack! Die Klemmen hatten sich ein Stück gelöst, als der Luchs sein Bein mit Schwung hindurch zog und klappten sofort wieder zu. Die Raubkatze konnte der Falle entkommen, konnte jedoch wegen seiner Erschöpfung nicht mehr im Sprung abbremsen und landete hart auf die Seite. Dem Tier war zum schlafen zumute. Es wollte einfach so liegen bleiben und neue Kraft schöpfen… doch es konnte nicht. Nicht, wenn es nicht sicher war. Die Minute auf dem Boden brachte wenigstens ein kleines Bisschen an Kraft zurück und der Luchs machte sich auf, dem Wesen zu folgen und herauszufinden, worum es sich da handelte.
Ein Jäger vom Flussdorf war in dieser unruhigen Nacht im Wald unterwegs. Seine Gefährten befanden sich etwas weiter entfernt und waren noch mit dem Wiederaufbau ihres Lagers beschäftigt, das unter dem Unwetter zu leiden hatte. Den Tag zuvor hatte er seine Fallen aufgestellt, um Beute oder Raubtiere zu fangen, die ihnen gefährlich werden konnten. Die Raubtiere wurden nur selten getötet und der Grund dafür war in der Regel die Selbstverteidigung. Deshalb wurden auch nur Fallen aufgestellt, die ihre Opfer nur festhielten und nicht verletzten. Das Leben der Tiere war für das Flussvolk etwas Wertvolles und durfte nur dann beendet werden, wenn es einen besonderen Grund dazu gab. Wie zum Beispiel den Hunger. Der Jäger näherte sich einer dieser Fallen, versteckte sich im Dickicht und schaute unauffällig durch die Büsche hindurch, auf das dort gefangene Tier. Ein Luchs.
Diese Raubkatze musste es sein, die in letzter Zeit die Tiere in der Umgebung riss und zerfetzt liegen ließ, ohne auch nur einen Bissen von ihnen zu nehmen. Nach ihr hatte er schon eine ganze Weile gesucht, denn nun schien in seinen Augen das Problem um die toten Tiere gelöst. Er blieb hinter dem Gebüsch und holte langsam seinen Bogen hervor. Im Wald war es unheimlich still geworden, nur ein paar davonfliegende Vögel waren ab und zu vernehmbar. Mit einem hin- und herwandernden Blick tastete er die Umgebung ab. Der Grund für diese Stille und die Nervosität der Vögel konnte nur dieser Luchs sein, da war er sich sicher. Es war ihm zwar nicht bekannt, dass Raubkatzen dieser Art so etwas ausrichten konnten, doch anders konnte er es sich nicht erklären.
Nun zog er einen Pfeil aus dem Lederköcher auf seinem Rücken und legte diesen leise an. Die Luft anhaltend wollte er gerade damit beginnen, den Bogen zu spannen, bis ihn plötzlich ein Schatten von der Seite umstieß und ihn an seinem Bein mit sich mitriss. Vor lauter Schreck stieß der Jäger einen lauten Schrei aus und ließ seinen Bogen fallen.
Am Boden entlang geschliffen spürte er jede Kante und jede Formation, über die sein Rücken glitt. Seine Überraschung war derart groß, dass er nur einen Schrei von sich geben konnte und danach nur geschockt feststellen musste, was da wirklich mit ihm geschieht. Das Ding, das ihn am Bein mit sich zog war erstaunlich schnell und bewegte sich nur durch das Rascheln der Büsche begleitet, ziemlich leise. Als der Jäger versuchte seinen Kopf anzuheben, um zu erkennen, wer oder was ihn am Bein festhielt, streifte sein Körper über eine Erhöhung, weshalb er wieder hart auflandete, sich den Kopf an etwas hartem stieß und das Bewusstsein verlor.
Erschöpft setzte der Luchs seinen Weg in Richtung der Laute fort. Es war alles andere als klug, sich in diesem Zustand dorthin zu begeben, doch die Neugier fraß ihn buchstäblich auf. Die weisen Meditatoren des Bergdorfes aus dem Norden sahen in diesem Wesen schon längst etwas, das anders war, als bei seinen Artgenossen. Es hatte einen ausgeprägten Charakter und die Fähigkeit zu verstehen, was Menschen sagen. Doch das, was es besonders einzigartig machte, war die mysteriöse Gabe Lebewesen zu durchschauen und hinter ihrem lügnerischen Schleier die Wahrheit zu sehen. Ob es an seinen Augen oder an seiner List lag, war selbst den Meditatoren nicht bekannt. Dieses Tier hatte sich alleine so entwickelt oder ihm wurde es beigebracht, so lautete ihre Theorie. Die Meditatoren waren ein Kreis alter und sehr ausgeklügelter Menschen des Bergvolkes, dessen Zahl an die 10 war und sie galten über ihren eigenen Stamm hinaus als die weisesten. Ihr Leben lang widmeten sie sich der Welt, dem Leben und dessen Sinn. Auch Moral und Ethik war ein wichtiges Kernstück ihrer Philosophie, nur gab es Stammeshäuptlinge, die sich daraus rein gar nichts machten. Ganz im Gegenteil. Es gab Stämme, die versuchten an mehr Macht zu gelangen, indem sie andere Stämme unterjochten. Dies passierte meist mit einem Angriff auf den jeweiligen Stamm. Die unterjochten wurden somit Teil des siegreichen Stammes. So etwas geschah in letzter Zeit zweimal, doch das Steppenvolk war in Begriff, mit ihrem Kriegzug sehr weit zu gehen. Jedes der Völker hatte seine Bräuche, ihre Prinzipien und manchmal auch ganz eigene Regeln.
Der Luchs machte einen Schritt nach dem anderen, mit dem Bemühen lautlos zu bleiben. Er wusste, dass der Jäger und sein Entführer sich in unmittelbarer Nähe befinde mussten. Er hielt inne, mit der einen Pfote in der Luft verweilend. Eine Lichtung nahe einem Fluss offenbarte sich. Da waren sie. Der Jäger lag bewusstlos an einem Baum gelehnt, wohl eher abgeworfen. Etwas Schimmerndes beugte sich zu seinem Gesicht runter. Das Schimmernde schienen Lichtreflexe zu sein, welches die Unsichtbarkeit des Wesens verriet. Nun geschah etwas, was aller Natur widersprach. Der Schimmer löste sich auf und änderte sich zu einem hellen Rauch, welcher eine menschliche Form annahm. Ein Mensch, der vollständig aus Nebel bestand, stand nun vor dem Jäger und fing an, einen grünfarbigen Dunst einzusaugen, welcher aus dem Mund des Jägers entwich. Es schien nichts Gutes zu sein. Während dieses Vorgangs bemerkte die nebelige Gestalt nicht, dass sich auf ihn eine Raubkatze stürzte, mit beiden Vorderpfoten nach vorn gestreckt und das Gesicht zu einer Zähne zeigenden Grimasse geformt.