Am nächsten Morgen ist eigentlich alles wie immer, mein Vater ist arbeiten, meine Mutter macht sich fertig für die Arbeit und ich beginne meinen Morgen ganz gemütlich. Nach dem Frühstück begegne ich meiner Mutter im Flur. „Hab einen schönen Tag, bis heute Abend“, ruft sie mir im vorbei gehen zu. „Bis heute Abend“, erwidere ich kurz. Ich mache mich im Bad frisch, ziehe meine schwarze Lieblingsjeans und ein weites T-Shirt an. Das T-Shirt sieht unter dem Kittel eh niemand. Dann schminke ich mich noch dezent und mache mich schließlich gut gelaunt auf den Weg zur Arbeit. Zum Glück fahre ich immer früh genug los, denn heute scheinen sich alle gegen mich verschworen zu haben. Zuerst habe ich einen LKW vor mir, dann einen Traktor. Ein Fahrschulauto, das nach jeder Ampel, die von rot auf grün schaltet, abgewürgt wird, raubt mir fast den letzten Nerv. Dennoch komme ich 2 Minuten vor halb 9 an der Apotheke an. Als ich allen Kolleginnen einen guten Morgen gewünscht habe, begebe ich mich in die Rezeptur um zu sehen was heute auf mich wartet. Gestern Abend lagen schon 2 Rezepturen da, aber da ist noch einiges dazugekommen. Mein Chef taucht hinter mir auf. „Haben Sie sich schon einen Überblick verschafft?“ „Ja, ich habe die Rezepturen schon nach Dringlichkeit geordnet“ antworte ich. „Ich muss in einer halben Stunde kurz weg, schauen Sie, dass Sie dann bisschen mit vor können!“ verkündet er. „Mach ich“ entgegne ich. Also mache ich erst mal alles Schriftliche, damit ich nicht mitten in einer Rezeptur hänge, wenn mein Chef weg ist. Protokolle und Etiketten schreiben und Preise ausrechnen dauert fast so lange wie die Herstellung der Rezeptur, nur dass man es unterbrechen kann im Gegensatz zur Herstellung. Als mein Chef weg ist, kommt es natürlich, wie immer, zu einem Kundenansturm. Aber ich lasse mich nicht aus der Ruhe bringen. Ich nehme mir für jeden Kunden so viel Zeit wie der Kunde eben benötigt und bleibe trotz Hektik freundlich und geduldig. Nach etwas über einer halben Stunde kommt mein Chef zurück und nachdem er mir signalisiert, dass ich wieder in die Rezeptur kann, mache ich mich wieder an die Arbeit. Ich konzentriere mich voll auf meine Rezeptur und merke erst an der Hektik meines Chef’s, dass vorne wieder viel los ist. Ich stelle eilig die Rezeptur fertig, weil ich genau weiß, dass Hektik und Kundenansturm meinen Chef schlecht gelaunt machen. Dann eile ich nach vorne, denn auf einen gestressten Chef habe ich keine Lust, auch wenn jede Minute vorne mehr Stress in der Rezeptur bedeutet. Als ich gerade hinten Medikamente für meinen Kunden zusammensuche kommt Birgit zu mir. „Rebecca, ich habe hier eine Rezeptur, auf wann kann ich die zusagen?“ „Oh, vor heute Nachmittag schaff ich das wohl nicht mehr“ „16 Uhr?“ „Ja das sollte passen, lass dir aber sicherheitshalber die Telefonnummer geben“, füge ich hinzu.
Nach ca. einer halben Stunde kann ich wieder in der Rezeptur weiter machen. Ich schaffe 3 der 5 Rezepturen vor der Mittagspause. Da weiß ich ja schon wie der Rest des Tages aussehen wird.
Gestärkt von der Mittagspause begebe ich mich wieder in die Rezeptur und erschrecke fast, als ich 2 zusätzliche Rezepte vor mir sehe. Das wird interessant. Mein Chef kommt um die Ecke. „Bleiben Sie dran, Sie gehen als Letzte vor!“. Das dachte ich mir schon, anders wäre das hier auch nicht zu schaffen. 5 Stunden später habe ich es tatsächlich geschafft, obwohl ich auch hin und wieder vorne aushelfen musste. Ich spüre wieder mal meine Beine vom vielen Stehen und beschließe mir noch ein Badesalz zur Entspannung mitzunehmen. Nachdem ich alles aufgeräumt habe, ist es halb 7 und eigentlich hatte ich schon vor einer halben Stunde Feierabend, aber manchmal muss man eben flexibel sein. Ich wünsche allen einen schönen Abend und mache mich auf den Heimweg.
Auf der Straße vorm Haus fahre ich vor Schreck fast in diesen weißen Audi. Scheiße, das hat mir heute noch gefehlt. Ich stelle mein Auto ab, atme tief ein und aus und betrete das Haus. „Ähm Süße, du hast Besuch“, empfängt mich mein Vater. „Ich habe sein Auto gesehen, wo ist er?“, will ich wissen. „In deinem Zimmer“ antwortet er zögernd. Immerhin scheint er zu wissen, dass es nicht richtig war, ihn in mein Zimmer zu lassen. Ich platze in mein Zimmer. „Was willst du hier?“, fauche ich ihn an. Erschrocken fährt er herum. „Ich finde es auch schön dich zu sehen“, spottet er. „Ich meine es ernst, was willst du?“, fauche ich. „Ruhig Blut Becca, lass uns doch einfach nochmal reden, ja?“ versucht er mich zu beschwichtigen. „Ach was, sag bloß mit deiner Leila läuft’s nicht so“ kontere ich. „Das mit Leila war Blödsinn, wir gehören zusammen, das wissen wir doch beide!“ säuselt er. „Ach und um das herauszufinden musstest du ihr deine Zunge in den Hals stecken?“. Was denkt der sich eigentlich, macht in aller Öffentlichkeit mit dieser kleinen… rum und jetzt kreuzt er hier auf. „Es tut mir doch leid, ich wollte ein Abenteuer und Abwechslung, das war blöd von mir, ich weiß nicht was mit mir los war“ beteuert er. „Mach dich einfach wieder vom Acker!“ herrsche ich ihn an. „Nein zuerst musst du mir zuhören!“ beharrt er. „Du hast eine Minuten“, antworte ich. „Okay hör zu, wir sind zusammen seit ich denken kann…“ „waren“, unterbreche ich ihn. „Okay, waren. Auf jeden Fall hatte ich irgendwie dieses Bedürfnis nach etwas Neuem, aber jetzt bin ich wieder klar im Kopf. Ich liebe nur dich und ich werde dich immer lieben. Ich tue was du willst, aber bitte gib mir noch eine Chance, ich schwöre du wirst es nicht bereuen! Wir können zusammenziehen, heiraten und Kinder kriegen, wie du es dir immer gewünscht hast. Alles was ich will, ist ein Leben an deiner Seite. Ich wusste nicht mehr was ich fühle, aber jetzt weiß ich, dass es keine Bessere für mich gibt als dich! Ich möchte mich abends in den endlosen Tiefen deiner meeresblauen Augen verlieren und ich möchte, dass sie das Erste sind, was ich morgens sehe. Ich möchte deine natürliche Schönheit sehen, wenn du morgens aus dem Bett kletterst, mit deinen wunderschönen goldenen welligen Haaren. Ich möchte dich in den Arm nehmen können, wann immer ich will…“ „Ich will, ich will. Und ich will jetzt, dass du gehst, die Minute ist um“ erwidere ich eisern und deute auf die Zimmertür. Er geht zur Tür, dreht sich aber noch mal um, blickt mir in die Augen und versichert „so schnell wirst du mich nicht los“. „Das werden wir noch sehen!“ herrsche ich ihn an. Dann endlich verschwindet er. Ich schließe die Tür und lasse mich gegen sie sinken. Was der sich einbildet, verleugnet mich, macht öffentlich mit einer Anderen rum, stellt mich bloß und weil es mit ihr nicht läuft schlägt er hier auf. Unglaublich! Ich schleudere meine Tasche, die immer noch um meine Schulter hängt, unter mein Bett und versuche mich wieder zu beruhigen. Plötzlich klopft es an der Tür. Ich stehe auf, öffne die Tür und hoffe, dass es nicht wieder Phillip ist. Vor der Tür steht jedoch meine Mutter. „Alles gut?“, erkundigt sie sich vorsichtig. „Wenn er weg ist, ist alles gut!“. Meine Mutter versteht sofort die versteckte Frage. „Ja er ist weg, er sah aber nicht sonderlich glücklich aus“, antwortet sie. „Das ist mir scheißegal, ich nehme jetzt ein Bad und will heute keine bösen Überraschungen mehr!“ schnauze ich sie an. Statt sich über meinen Ton zu beschweren nimmt sie mich einfach in den Arm. „Soll ich dir was zu essen machen“ erkundigt sie sich. „Kannst du mir geröstete Nudeln machen? Ich bin in ca. 40 Minuten fertig“, antworte ich leise. „Klar mach ich dir, lass dir ruhig Zeit!“ sagt sie, dann drückt sie mich nochmal fest an sich, bevor sie mich alleine zurücklässt. Komisch wie beruhigend sie auf mich wirken kann, wo sie mich doch meistens zur Weißglut bringt. Aber wenn es mal nicht um meinen Job geht, versteht sie mich wirklich gut und weiß wie sie mit mir umgehen muss. Ich schnappe mir meine Tasche und leere sie auf meinem Bett aus, um das Badesalz zu finden. Dabei fällt mir mein Handy entgegen. Phil: Ich werde dich nicht aufgeben! Kann er mich nicht einfach in Ruhe lassen? Ich schleudere das Handy zurück auf mein Bett, schnappe das Badesalz und gehe ins Bad.
Es ist erstaunlich, wie entspannend so ein Bad wirken kann. Als ich in die Küche komme und meine Mutter noch am Herd stehen sehe, sage ich, was ich vorher schon hätte sagen sollen „Danke Mama und entschuldige bitte meinen Ton von vorhin“. „Mach dir keinen Kopf Rebecca, ich verstehe das. Es ist aber gut, dass du gemerkt hast, dass dein Ton nicht in Ordnung war“ antwortet sie. Ich setze mich an den Küchentisch und meine Mutter stellt eine Tasse vor mir ab. Als ich daran rieche, erkenne ich darin unser All-Heil-Mittel bei Kummer und Sorgen: warme Milch mit Honig. Das kann ich jetzt wirklich gut gebrauchen. Als ich einen großen Schluck genommen habe, bekomme ich einen Teller, gefüllt mit gerösteten Nudeln, gereicht. „Mama, ich habe dich lieb“ erkläre ich ihr, weil es stimmt und ich weiß, wie viel ihr das bedeutet. „Ich habe dich auch lieb Becchen“ erwidert sie. Mein Vater gesellt sich zu uns in die Küche und die beiden setzen sich gegenüber von mir an den Küchentisch. „Entschuldige, dass wir ihn reingelassen haben. Wir wussten einfach nicht was wir tun sollten, immerhin ging er hier jahrelang, wie selbstverständlich ein und aus“ entschuldigt sich mein Vater bei mir. „Ist schon in Ordnung, ihr habt nichts falsch gemacht. Ich war nur überfordert mit der Situation“ beschwichtige ich.
Als ich leer gegessen und das Geschirr weggestellt habe, erkläre ich, dass ich mich jetzt noch auf die WG-Besichtigung morgen vorbereiten möchte. Die beiden wirken irritiert sagen aber nichts dazu.
In meinem Zimmer rufe ich noch mal die Ausschreibung auf. 600 Euro warm für ein 30cm²-Zimmer. Auf den Bildern sieht die WG hell und großräumig aus. Mit Frau Peters habe ich schon am Telefon gesprochen und sie hat einen netten Eindruck gemacht. Name, Alter, Job und momentanen Wohnort weiß sie schon. Was sollte ich noch von mir erzählen? Vielleicht meinen normalen Tagesablauf? Dass ich ordentlich bin und kein Problem mit Putzdienst habe? Dass ich ein umgänglicher Mensch und sehr tolerant bin? Das ist unglaublich wie nervös ich bin. Vielleicht sollte ich mir auch einfach nicht so einen Kopf machen und abwarten? Ich räume meine Tasche, die nach wie vor auf meinem Bett liegt wieder ein. Als ich mein Handy auf meinen Schreibtisch lege, fällt mir die SMS wieder ein aber ich habe keine Lust darauf zu reagieren. Ich lege mich ins Bett, aber meine Gedanken kreisen weiter. Wie stehen meine Chancen? Was darf ich auf keinen Fall sagen oder machen? Wie offen kann ich sein? Soll ich viel fragen oder eher nicht um nicht zu nerven?
Irgendwie muss ich mitten in meinen Gedanken eingeschlafen sein, denn es ist 6:47Uhr. Ich stehe auf, da mein Wecker sowieso gleich geklingelt hätte. Ich bin schon wieder in Gedanken. Irgendwas muss mir entgangen sein, denn meine Mutter steht vor mir und sieht mich fragend an. „Was ist?“ hake ich nach. „Ich sagte “Guten Morgen“, du scheinst ja echt nervös zu sein“ antwortet sie. „Guten Morgen, ja, tut mir leid“ sage ich. Ich hänge mir meine Tasche um und greife nach meiner Jacke. „Du willst aber nicht so gehen, oder?“ frägt meine Mutter. Verwundert trete ich vor den Garderobenspiegel. Ich habe getrocknete Zahnpasta im Gesicht und ich bin ungeschminkt. Ein Blick auf die Uhr zeigt, dass es nur noch für eine Gesichtswäsche reicht. „Danke“ antworte ich knapp und verschwinde im Bad. Das hätte peinlich werden können.
Auf der Arbeit versuche ich mich zusammenzureißen, aber ich ahne schon, dass es mir nicht so gut gelingt. „Frau Ebinger“, höre ich meinen Chef. Oh je, es geht los. „Ja?“ antworte ich kleinlaut. „Hier ein Rezept für künstliche Befruchtung, Sie wissen doch, dass die Kundin da 50% selbst zahlen muss!?“ meckert er los. „Da habe ich nicht drangedacht, entschuldigung!“ erwidere ich. „Und hier ein Rezept von letztem Jahr, das sie beliefert haben!“ schimpft er. „Das muss ich übersehen haben“ gestehe ich. „Was ist denn schon wieder los mit Ihnen?“ will er wissen. „Entschuldigung, ich habe gleich eine WG-Besichtigungstermin und bin etwas nervös“, gestehe ich. „WG? Ich dachte, Sie wollten sich etwas mit Ihrem Freund suchen?“ erkundigt er sich. „Exfreund“ sage ich schlicht. „Das tut mir leid, seit wann denn das?“ hakt er nach. „Seit dem Wochenende“, erkläre ich. „Das erklärt einiges. Wie wäre es, wenn Sie sich nächste Woche freinehmen um Ihre Sachen zu regeln?“ schlägt er vor. „Geht das denn so kurzfristig?“ erkundige ich mich. „Morgen und am Samstag brauche ich Sie hier noch. Aber nächste Woche hat niemand Urlaub, also spricht nichts dagegen“ erklärt er. „Dann sehr gerne, vielen Dank und nochmal entschuldigung“ nehme ich den Vorschlag an. „Schon gut, Sie können dann auch Feierabend machen. Ich wünsche viel Glück und einen schönen Nachmittag!“ verabschiedet er mich. „Danke, bis morgen!“ verabschiede ich mich.
Wieder daheim schiebe ich mir schnell eine Pizza in den Ofen, ich habe heute keine Geduld anständig zu kochen. Man wie kann man wegen sowas nur so nervös sein. Ich mache mich im Bad frisch und schminke mich dezent. Dann versuche ich mich zu beruhigen und mache mich um 14:30 Uhr auf den Weg, damit ich nicht zu spät komme.