"...wissen wir, dass die Heiligen auf unserer Seite sind und uns vor dem Angriff dieser heidnischen Barbaren beschützt haben!”
Abt Feldokar sprach von der selben Bühne, auf der er am gestrigen Tag seine Festrede gehalten hatte, zu der Menge, die sich auf dem nun wieder frei geräumten Platz versammelt hatte.
Die Kapelle des Klosters hätte den großen Ansturm von Menschen, die Trost und Beistand suchten, nicht mehr aufnehmen können.
Khalid hätte sich über die Ironie dieser Situation amüsieren können, wäre ihm danach zumute gewesen.
Es hatte schon ein schreckliches Unglück geben müssen, das - wie sich später herausstellte - dreizehn Todesopfer (die Barbaren nicht mitgezählt) gefordert hatte, um die Menschen wieder zum Glauben zurückzuführen.
Lebten sie in Frieden und ging es ihnen gut, so respektierten sie das Kloster und schätzten es für seinen Nutzen für das Dorf, zeigten aber sonst kein großes Interesse an den Heiligen. Sie feierten den Rahl, weil es ihnen gefiel und empfanden dies bereits als Dienst für die Heiligen.
Der junge Mann fing an, diesen ängstlichen und quengelnden Haufen von Menschen zu verachten.
Er verstand auch nicht, was Feldokar mit seiner hochpathetischen Predigt bezwecken wollte. Die Heiligen waren auf ihrer Seite? Nun, dann war es doch seltsam, dass auch Menschen aus dem Dorf in diesen schrecklichen Schlund gezogen worden waren.
Man mochte es als Strafe für die Fehler und den Unglauben der Dorfbewohner betrachten und diesen Punkt hatte der Abt auch aufgeführt. Doch Khalid ließ sich davon nicht überzeugen. In keiner Überlieferung war je die Rede davon gewesen, dass die Heiligen direkt in die Welt der Menschen eingegriffen hätten, sie dienten viel mehr als Vorbilder, nach denen die Menschen ihr Leben und Schaffen richten sollten.
Nun, auch wenn sie falsch war, immerhin hatte Feldokar eine Theorie, er selbst besaß keine.
“Wir alle haben Freunde oder Verwandte bei diesem brutalen Überfall verloren, doch wir wollen nicht unser Leben von diesen Primitiven zerstören lassen. Laurane ist mit uns, niemand wird das ändern können!”
Khalid wunderte sich mehr und mehr über die Rede des Abtes. Er drückte sich so aus, als wären die Barbaren für die Toten verantwortlich gewesen, dabei wusste niemand von ihnen, was die Fremden tatsächlich gesucht hatten.
Jubel brach in der Menge aus, woraufhin Khalid sich die Hände an die Schläfen presste. Es schien, als würden ganze Horden von Reitern durch seinen Schädel preschen. Es war nicht nur der Kopfschmerz, mit dem er an diesem Morgen zu kämpfen hatte.
In der letzten Nacht war etwas geschehen, was ihn zutiefst verwirrte: Seine Träume waren zurückgekehrt.
Das durfte nicht sein, in den letzten acht Jahren waren sie immer nur in der Nacht vom Darrel zum Rahl oder wenn er den Fehler machte, am Rahl vor Mitternacht schlafen zu gehen, zu ihm gekommen.
Doch in der vergangenen Nacht war er ganz sicher nicht zu früh eingeschlafen. Es hatte noch viele Stunden gedauert, bis das allgemeine Chaos und die Panik sich gelegt hatten und die Menschen in ihre Häuser, soweit sie noch standen, zurückgekehrt waren.
Noch weitaus länger hatte es gebraucht, bis Ludger endlich davon abgesehen hatte, ihn mit Fragen zu löchern und er selbst zur Ruhe kommen konnte.
Viel Ruhe hatte er allerdings nicht bekommen. Immer wieder sah er im Schlaf die großen, fetten, schwitzenden Männer vor sich, wie sie sich über ihn beugten. Ihr Gestank umgab sie wie eine giftige Aura, die Berührung ihrer dicken Finger verursachte ihm Magenkrämpfe.
Und dann ging es los.
Khalid drängte die Gedanken wieder zurück. Die letzte Nacht hatte gereicht, er wollte das alles jetzt nicht noch einmal durchleben.
Feldokar hatte die Gläubigen zu einem stillen Gebet aufgefordert, um der Toten zu gedenken und auch Khalid senkte das Haupt. Wie wohl viele andere unter den Mönchen bat er Laurane um Rat, fragte, was nur geschehen war, wieso sich plötzlich alles veränderte.
Nicht, dass ihn Veränderungen stören würden, er hätte nur zu gerne sein vergangenes Leben hinter sich gelassen, doch die gestrigen Ereignisse verstörten ihn zusehends. Vor allem sein eigenes seltsames Verhalten erschien ihm immer merkwürdiger.
Die Messe war damit beendet und es brachen wilde Diskussionen in der sich langsam zerstreuenden Menge aus.
Um die heutige Ironie perfekt zu machen, war auch noch Mhril, der Tag des gleichnamigen Heiligen, welcher der Trauer und dem Gedenken verlorener Menschen gewidmet war, sowie traditionell der Buße und Demut nach den Ausschweifungen des Rhals.
“Was machen wir nun?” fragte Ludger, der am heutigen Tag seine sonst unzerstörbare gute Laune verloren zu haben schien.
“Geh du nur zu Marie. Erholt euch ein wenig, ich werde ein bisschen lesen.” Khalid spürte den Druck wieder wachsen, es zog ihn immer stärker in die Bibliothek zurück.
“Ich dachte mir, wir sollten vielleicht beim Wiederaufbau helfen”, fuhr sein Bruder fort, “Die können mit Sicherheit noch Unterstützung gebrauchen. Und vergiss nicht, dass wir später noch in den Obstgärten arbeiten müssen.”
“Ja...ja, du hast Recht...” Khalid bewegte sicht bereits langsam auf das Kloster zu, “...ich komme nach, ich muss nur noch kurz etwas Wichtiges erledigen...”
Mit diesen Worten wandte er sich um und ließ seinen verdutzten Bruder kurzerhand stehen.
Kopfschüttelnd beschloss Ludger, sich in Zukunft über nichts mehr zu wundern.
Es sollte an diesem Tag nicht mehr dazu kommen, dass Khalid beim Wiederaufbau der Ruinen half. Ludger fand ihn nachmittags schließlich in der Bibliothek über einem Haufen Büchern hockend und musste ihn mehr oder minder sanft dort hinausschaffen, damit sie nicht zu spät zur Arbeit kamen, was eine wenig angenehme Rüge zur Folge gehabt hätte.
So setzte es sich fort. Khalids Träume suchten ihn nun in jeder Nacht heim, seine Stimmung wurde immer düsterer und missgelaunter. Langsam aber sich kapselte sich der junge Mann vollständig von seiner Umwelt ab, verbrachte jede freie Minute in der Bibliothek. Alle wohlgemeinten besorgte Fragen ließ er unbeantwortet, hüllte sich in eisiges Schweigen.
Besonders Ludger machte sich immer größere Sorgen um seinen Zwillingsbruder, musste aber nach vielen vergeblichen Anläufen erkennen, dass er nichts erreichen konnte. Khalid ließ sich weder von seinem Raggaroth-Studium abbrigen, noch äußerte er seine Motive.
Ludger konnte nicht wissen, dass sein Bruder dieses Verhalten selbst nicht verstand, sich nur bewusst war, dass es ungemein wichtig war.
So kam der Sommer ins Land, die zerstörten Häuser waren wieder aufgebaut worden, weitere Angriffe von den Barbaren waren ausgeblieben.
Der Vorfall vor wenigen Monaten war nicht vergessen worden, doch man sprach nicht darüber und gab sich auch Mühe, so wenig wie möglich daran zu denken.
In diesem scheinbaren Frieden rückte schließlich der Tag näher, dem viele junge Novizen angstvoll entgegen blickten, der Tag der ersten Feuertaufe.
*
Noch nie zuvor hatte Khalid die Kapelle des Klosters als so feindselig empfunden. Seine Schritte hallten unnatürlich laut wider, als er durch die leeren Reihen in Richtung Altar schritt.
Draußen neigte sich bereits der Abend. Den ganzen Tag über waren junge Novizen und Novizinnen in ihren Fähigkeiten zur Meditation geprüft worden und er und Ludger hatten die Zeit genutzt und stundenlang geübt.
Khalid machte sich keine Sorgen über ihr Bestehen, die Prüfung galt als äußerst einfach, nur selten war es geschehen, dass sie jemandem nicht gelang.
Doch Ludger war den ganzen Tag über sehr nervös gewesen, hatte ständig an der Perfektion seiner Fertigkeiten gearbeitet und so hatten sie den ganzen Tag gemeinsam in ihrer kleinen Kammer verbracht.
Es waren schöne Stunden gewesen, Stunden, die die beiden Brüder wieder näher zusammen brachten, sie die letzten Wochen vergessen ließen.
Khalid fühlte sich an jenem Tag wie befreit von der Last, die seit kurzem an seiner Seele und seinem Verstand nagte. Keine Träume hatten ihn in dieser Nacht heimgesucht, keine Stimmen ihn gequält, ihn gezwungen, sich mit einem Stapel Bücher in die Isolation zurückzuziehen.
Doch nun, da er die Kapelle, die ihm viel größer als sonst erschien, betreten hatte, war diese leichte fröhliche Stimmung wie weggeblasen.
Widerwillig musste er sich eingestehen, dass er durchaus ein nicht geringes Maß an Nervosität verspürte.
Der junge Mann spürte das Herz in seiner Brust schneller und schneller schlagen, jeder Schritt schien schwerer als der vorherige zu sein.
Er hatte gelernt, es gab keinen Grund, nervös zu sein, es war ein einfacher Test seiner Fähigkeiten. Wenn er etwas beherrschte, dann die Meditation, war sie doch lange Zeit seine Einzige Zuflucht vor den Schrecken seiner Träume gewesen.
Khalid fuhr sich mit den Händen über die Augen und merkte, dass sie schweißnass waren.
Eine einzelne Ader pulsierte an seiner Schläfe im Rhythmus seines Herzens und bescherte ihm dröhnende Kopfschmerzen.
Sein ganzer Körper schrie danach, umzukehren, doch dieses Mal hörte Khalid nicht auf ihn. Dieses Mal wehrte er sich.
In diesen unsichtbaren Kampf verwickelt, trat der Novize schließlich vor die erste Reihe der Kapelle, wandte sich um und verbeugte sich vor den drei dort sitzenden Personen, wobei er sich die ganze Zeit darauf konzentrierte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Feldokar und seine Frau nickten und lächelten freundlich, Rebecca noch ein wenig ehrlicher als ihr Gemahl. Der neben ihnen sitzende Trainer der Novizen und Meister der Meditation, Rahel von der Tann, nickte nur. Angeblich soll kein lebendes Wesen ihn je lachen gesehen haben.
„Es freut mich, dich zu sehen, Khalid.“, begann der Abt, „Ich hörte, dass du dich in letzter Zeit ziemlich zurückgezogen hast. Gibt es etwas, über das du mit mir reden möchtest?“
Feldokar und Rebecca waren die einzigen Personen, die über ihre Vergangenheit und seine Träume bescheid wussten, schließlich hatten sie ihn und seinen Bruder damals vor acht Jahren hier aufgenommen, zwei dreckige, halb verhungerte, verängstigte Jungen. Sie hatten dieses Geheimnis immer in Ehren gehalten und nie mehr zu wissen verlangt als das, was er und Ludger bereit waren zu erzählen. Dafür war Khalid ihnen sehr dankbar, dennoch schüttelte er den Kopf.
„Es geht mir gut Hochwürden, ich habe nur Angst wegen dem Angriff. Es war schrecklich.“
Feldokar nickte, doch er schien ein wenig enttäuscht zu sein.
„Nun Khalid, wir sollten zu deiner Prüfung kommen. Setz dich dort auf den Teppich!“
Der Abt wies auf eine Stelle hinter dem jungen Mann, welcher der Anweisung mit unsicheren Beinen Folge tat und sich auf dem kleinen handgeknüpften Teppich niederließ.
Vor sich sah er nun einen Ölstein, der auf einer eisernen Halterung saß und mit leicht bläulicher Flamme brannte. Khalid kannte diese Steine. Sie waren sehr selten, aber das Öl in ihrem Inneren brannte viele Tage am Stück und das Feuer spendete viel mehr Wärme als das eines einfachen Holzscheits.
Bei genauerem Hinsehen erkannte er einen einfachen, scheinbar aus Eisen gefertigten Ring, der auf dem Stein lag und von der Hitze bereits zu glühen angefangen hatte.
Dem Novizen zog sich der Magen zusammen.
Er ahnte bereits, was nun folgen würde.
„Deine Aufgabe ist einfach.“, fuhr Feldokar fort, „Nimm den Ring von dem Stein herunter und bring ihn zu mir. Befiel deinem Körper, keinen Schmerz zu empfinden und keine Verbrennung davonzutragen. Dies soll deine erste Feuertaufe sein und uns beweisen, dass du würdig bist, den Titel eines Akoluthen zu tragen und die Ausbildung zum Mönch fortzuführen. Beginne nun mit deiner Meditation!“
Khalid schloss die Augen und atmete tief ein.
Diese Prüfung war tatsächlich nicht sehr schwer, sie hatten derartiges bereits in ihren Übungen gemacht und er hatte nie Schwierigkeiten damit gehabt.
Doch damals hatten nicht sein Körper und sein Geist gegen ihn rebelliert.
Erst jetzt bemerkte er, dass ein leicht süßlicher Geruch in der Luft hing, von dem ihm etwas schwindelig wurde. Der Stein war mit Ölen bearbeitet worden, die die Meditation unterstützen sollten.
Der junge Novize achtete nicht darauf, ignorierte jegliche Sinneseindrücke, die die Umgebung ihm gab.
Dies war der erste Schritt zur Meditation und so oft von ihm erprobt, dass er zur Routine geworden war.
Der Nächste war wesentlich schwerer, er musste seinen Geist frei bekommen.
Langsam ging Khalid in seinem Kopf die Schritte durch, die Rahel ihnen beigebracht hatte. Zuerst musste er mithilfe von guten Gedanken die Schlechten aus seinem Geist vertreiben.
Seine Auswahl an schönen Erinnerungen war nicht sehr groß, also nahm sich Khalid das naheliegendste vor und konzentrierte sich auf den Nachmittag mit seinem Bruder.
Sie hatten gelacht und sich geneckt, als wäre nie etwas passiert. Solche Momente hatte es selten zwischen ihnen gegeben und umso wertvoller waren sie.
Sein Unwohlsein, die Kopfschmerzen, all das verschwand. Seine Muskeln und sein Magen entspannten sich, sein Herz schlug langsamer, der Atem wurde flacher.
In Gedanken war der junge Mann nicht mehr in der Kapelle des Lauranerklosters, sondern in seiner Kammer mit seinem Bruder und durchlebte die Stunden des Nachmittags noch einmal.
Mit dem Rest seines Bewusstseins löste er nun auch diese Erinnerung langsam auf, ließ sie verschwimmen und in den Hintergrund treten, bis sie nicht mehr greifbar war.
An ihre Stelle trat das Nichts, der absolute Frieden, der das Ziel eines jeden Meditierenden war.
Da sein Geist nun von keinen Gedanken, Erinnerungen und Gefühlen mehr gefesselt wurde, konnte Khalid seinen Körper verlassen und in das Nichts gleiten, einzig gehalten von dem filigranen Notseil, das ihn in seinen Körper zurückholen sollte, dem letzten Stück bewussten Denkens, dass er auf keinen Fall verlieren durfte.
Aber Khalid empfand keine Angst, auch genoss er nicht das Schweben im Nichts, er wusste lediglich, dass es gut war. Und richtig.
Wie von selbst führte sein Körper die Aktion aus, die er ihm zuletzt befohlen hatte, erhob den Arm und griff in das Feuer hinein.
Khalid wusste, dass er keinen Schmerz fühlen würde, der Schmerz war etwas Weltliches, etwas Ordinäres. Auch würde er keine Verbrennungen haben, denn sie waren lediglich eine Marter, die die Seele sich selbst zufügte. War sein Geist nicht anwesend, so konnte sein Körper auch nicht verbrennen.
Wie ein ferner Beobachter registrierte der Novize, dass sein Körper den Ring in die Hand nahm und diese aus dem Feuer zog.
In diesem Moment gab es einen Knall und Khalids Notseil, die letzte Verbindung zwischen seinem Körper und seiner Seele zerriss.
Panisch griff seine Seele um sich, suchte Halt an den unzähligen Erinnerungsfäden, die nun wieder auf ihn eindrangen.
Sie fand einen, krallte sich fest und die Szenerie änderte sich.
Klatsch
Ein weiteres Mal biss ihn der entsetzliche Schmerz in die Brust.
Durch die verquollenen, halb geöffneten Augen sah Khalid seinen Vater über sich aufragen, das Gesicht rot vor Zorn, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, die kurze Geißel zu einem weiteren Schlag erhebend.
„Wenn du das noch einmal tust Junge, ich schwöre dir, ich bringe dich um!“
Seine Stimme überschlug sich, während er schrie.
Klatsch
Khalid bemühte sich krampfhaft, nicht zu weinen.
Weinen hätte Vater nur noch wütender gemacht.
Am Rande seines Blickfeldes sah er seinen Bruder, der in der Ecke des kleinen Zimmers kauerte, die Arme um die Knie geschlungen und angstvoll zu ihnen herüberblickte.
Vater würde ihn auch noch bestrafen und das würde die eigentliche Strafe für Khalid werden: zusehen zu müssen, wie Ludger, der völlig unschuldig war, für sein eigenes Vergehen büßen müsste.
Er hatte es nicht tun wollen, er hatte dem Mann nicht in sein Teil beißen wollen, aber er hatte würgen müssen, hatte befürchtet, sich zu übergeben. Das wäre noch schlimmer gewesen.
Und der Mann war doch viel stärker gewesen.
Klatsch
Später würde er sie wieder zu sich rufen. Und dann würde die Nacht beginnen…
Vater hatte natürlich Recht.
Sie mussten Buße tun, weil sie ihrer Mutter bei der Geburt das Leben genommen hatten und da war es nur Recht, dass sie Vater halfen, Geld zu verdienen, damit sie sich Essen kaufen konnten.
Und es war nur Recht, dass Vater sie benutzte, weil er doch keine Frau mehr hatte und es sich nicht leisten konnte, sich selbst welche zu kaufen. Und er war doch ein Mann, also mussten sie ihm helfen bei dem, was ein Mann eben brauchte.
Das hatte Vater gesagt.
Und natürlich hatte er Recht.
Vater hatte doch immer Recht.
Ein beißender Schmerz riss Khalid in die Wirklichkeit zurück.
Schreiend entledigte er sich der Schmerzquelle und hörte ein metallisches Geräusch, als irgendetwas auf den Boden aufschlug.
Doch davon bemerkte der Junge nicht mehr viel.
Sein Herz schien sich selbst überschlagen zu wollen, alles um ihn herum drehte sich in wilden Bahnen.
Schmerz brannte überall, der junge Novize konnte nicht mehr unterscheiden, was Wirklichkeit und was Erinnerung war.
Schließlich gab sein gemarterter Geist auf und ließ ihn in neue Schwärze sinken, als Khalids Kopf hart auf dem Steinboden der Kapelle aufschlug.
*
„Vater…?“
Feldokar schrak auf, als Khalid plötzlich zu sprechen begann. Doch er sah, dass die Augen des jungen Mannes, der in dem großen Krankenbett recht verloren wirkte, noch fest geschlossen waren.
„Ja, mein Sohn?“, antwortete der Abt, der es gewohnt war, auf diese Art angesprochen zu werden. Er konnte nicht wissen, dass er nicht gemeint war.
„Vater…es tut mir so leid…“
„Ist schon gut mein Sohn“, Feldokar strich sanft über das Haar des Jungen, „es ist nicht deine Schuld, du hast nichts verbrochen.“
Der Abt seufzte schwer, als er sah, wie sich ein entspanntes Lächeln auf Khalids Gesicht zeigte.
„Es ist nicht deine Schuld, Junge…“
Khalids Bewusstsein kehrte langsam zurück, wie um ihn zu schonen.
Doch schon bevor er die Kraft fand, die Augen zu öffnen, bemerkte er den scharfen Geruch von Chemikalien in der Luft, die weichen Kissen unter seinem Kopf und das geschäftige Treiben auf den Fluren vor seinem Zimmer.
Er war im Hospital.
Mit dieser Erkenntnis kamen die Erinnerungen und der damit verbundene Schmerz zurück, der von seiner rechten Hand ausgehend pulsierende Wellen durch seinen Körper sandte.
Stöhnend drehte der junge Mann auf die Seite und öffnete die Augen, langsam, um sich gegen das grelle Licht zu wappnen, das er erwartete.
Doch das weiße Zimmer war nur in den sanften Schein einer einzelnen Kerze getaucht, die Läden des Fensters geschlossen. Draußen schien es tiefe Nacht zu sein.
„Gemach, Junge!“, tönte eine Stimme hinter ihm, „Du solltest deinen Körper nicht überbeanspruchen.“
Khalid gehorchte und blieb ruhig liegen, als er hörte, wie Feldokar von der anderen Seite des Zimmers zu ihm herüberlief und schließlich in sein Blickfeld trat. In dem Gesicht des Abtes standen Mitgefühl und Sorge und noch etwas anderes, das Khalid nicht so recht deuten konnte.
„Wie geht es dir mein Sohn?“, fragte der Alte. Khalid lächelte schmerzlich.
„Nun, ich fühle mich, als wäre ich von einer Ochsenherde überrannt worden. Was ist passiert?“
Feldokar zog einen Hocker hervor und nahm seufzend darauf Platz.
„Du hast dich in deiner Meditation zu weit von deinem Körper entfernt, fast hätte sich deine Seele unwiderruflich von ihm gelöst. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich wie du dich fühlst. Offen gesagt bin ich überrascht, dass du bereits aufgewacht bist, du hast nur wenige Stunden geschlafen.“
Der Abt hatte Recht, Khalid fühlte sich alles andere als erholt.
„Ich habe die Prüfung nicht bestanden, nicht wahr?“
Feldokar sah weg, schwieg aber.
„Was wird nun geschehen?“ Der junge Mann hatte Mühe zu sprechen.
„Ruh dich erst einmal aus, Sohn. Wenn du dich erholt hast, werden wir über alles sprechen.“
„Nein Vater!“, erwiderte Khalid und versuchte, seine Stimme fest klingen zu lassen, „Bitte sagt es mir jetzt. Muss ich das Kloster verlassen?“
Der Abt blickte ihn mit gequältem Ausdruck im Gesicht an. Er schien mehr unter diesem Gespräch zu leiden als sein Gegenüber.
„Ja“, antwortete er schließlich, „aber es ist nicht so schlimm wie du vielleicht vermutest. Du wirst deine Pilgerreise früher antreten als die anderen und du wirst ein Jahr und einen Tag an den Orten der Meditation in Raggar verbringen. Dann kannst du zu uns zurückkehren und es erneut versuchen.“
Khalid schloss die Augen. Ein Jahr und ein Tag. Die Reise der anderen würde nur wenige Monate dauern. Dennoch, es war eine mildere Strafe, als er erwartet hätte.
„Wann muss ich gehen?“
„Sobald du dich wieder völlig erholt hast. Setz dich nicht selbst unter Druck, Khalid.“ Mit diesen Worten erhob sich Feldokar. „Ich sollte nun deinen Bruder holen, er wartet schon die ganze Zeit vor der Tür. Ich hatte ihn gebeten, zuerst mit dir sprechen zu dürfen.“
Der junge Novize stöhnte auf.
„Oh nein, Vater! Seid nicht so grausam, ich bin doch bereits gestraft!“
Der Abt lächelte, auch wenn es ein wenig gezwungen schien und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer.
„Khalid! Geht es dir gut? Brauchst du etwas? Hast du Hunger? Oder Durst? Kann ich irgendetwas für dich tun?“
Der Angesprochene stöhnte entnervt auf.
„Für den Moment würde es reichen, wenn du mich nicht zu Tode drückst!“
Ludger nickte und ließ von seinem Bruder ab.
„Nimm Platz“, fuhr Khalid fort, „mein Heim ist dein Heim.“
Sein Bruder gehorchte, hielt seine linke Hand aber weiter fest umklammert. Khalid blickte ihn mitleidig an. Man konnte sehen, dass Ludger geweint hatte.
„Was war passiert?“ fragte dieser nun in wesentlich ruhigerem Ton.
„Ich weiß es nicht, ehrlich nicht. Irgendwie habe ich die Kontrolle verloren. Es war…als hätte jemand mein Seil durchgeschnitten.“
„Aber wer könnte das gewesen sein?“
Khalid zuckte mit den Schultern, woraufhin neuerliche Wellen von Schmerz durch seinen Körper rasten.
„Vielleicht irre ich mich auch, vielleicht bin ich einfach nicht so gut wie ich dachte.“
Doch Ludger machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Das ist Unsinn, kleiner Bruder! Du bist einer der besten Schüler, die dieses Kloster jemals gesehen hat und das wissen die anderen auch. Alle fragen sich, warum du die Prüfung nicht bestanden hast.“
Khalid nickte. Trotz aller Bescheidenheit, er war einer der besten in der Kunst der Meditation. Irgendetwas hatte ihn gestört und in die Traumwelt seiner Vergangenheit zurückgeworfen.
Doch darüber musste er später nachdenken, jetzt gab es erstmal noch eine unangenehme Sache zu erledigen.
„Ich werde weggehen, Ludger!“, sagte er geradeheraus, „Doch nicht für ewig. Feldokar hat mir aufgetragen ein Jahr und einen Tag an den Orten der Meditation zu studieren und dann zurückzukehren.“
Ludgers Blick wurde panisch, der Griff, mit dem er Khalids Hand umklammerte, schmerzhaft.
„Was? Aber du darfst nicht gehen! Was…was soll ich denn ohne dich hier machen? Lass mich mit dem Abt reden, vielleicht können wir noch irgendetwas daran ändern. Das sind doch alte verstaubte Regeln von vor Hunderten von Jahren. Mal ehrlich, wen interessieren die heute noch? Du darfst nicht gehen, Khalid, bitte! Wir waren noch nie so lange voneinander getrennt!“
„Wir hätten so oder so nicht die Pilgerfahrt gemeinsam unternehmen können und uns mehrere Monate nicht gesehen. Und ich gehe ja nicht für immer, ich werde doch zurückkommen.“
Ludger schüttelte nur unablässig den Kopf, als versuchte er, die Realität zu verändern, indem er sie nicht wahrnahm.
„Bitte lass uns morgen weiter darüber reden.“, fuhr Khalid fort, „Ich bin ziemlich müde und muss mich ein wenig ausruhen.“
Sein Bruder nickte und erhob sich, das Gesicht krampfhaft verzerrt in dem Bemühen, Haltung zu bewahren.
„Dann schlaf gut kleiner Bruder! Ich werde morgen früh wieder bei dir sein.“
Im Hinausgehen löschte Ludger die Kerze und hinterließ Khalid im Schein des fahlen Mondes, dessen Licht durch die Ritzen in den Fensterläden auf das Bett drang.
So nie in seinem Leben hatte er seinen Bruder als so zerbrechlich empfunden.
Khalid wartete einen Moment, nachdem er wieder allein war, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten und wickelte dann langsam den Verband von seiner rechten Hand.
Eine kalte Hand schien sich auf sein Herz zu legen, als er die rote nässende Wunde darunter sah, die später eine kreisrunde Narbe auf seiner Handinnenfläche hinterlassen würde.
Das grimmige Lächeln, das auf dem Gesicht des jungen Mannes erschien hätte wohl jedem das Blut in den Adern gefrieren lassen.
Die Einzigen, die es verstanden, eine solche Narbe zu heilen, waren die Heiler dieses Klosters.
Doch sie würden nichts dergleichen tun.
Er war nun gezeichnet.