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D.M.d.B. Kapitel 03 "Tod des Gutsherrn" - von Aabatyron, 10.09.2007
a potência de caridoso
(Die Macht der Barmherzigkeit)


Tod des Gutsherrn

Carlos hatte jeden Tag nach der Arbeit, die er auf der Farm seines Gutsherrn verrichten mußte, sein eigenes gekauftes Land aufgesucht und dort angefangen, Stück um Stück zu roden, um der Wildnis ein Stück Ackerboden abzuringen. Seinen Traum, hier Bohnen für den Verkauf anzupflanzen würde er wahr machen.

Inzwischen halfen ihm seine vier Söhne wo sie nur konnten – mit ihrer zusätzlichen Hilfe konnte er die Farmarbeiten schneller erledigen und hatte so etwas mehr Zeit für sein eigenes Land. Bevor er das “Schlangengrubenland” betrat, wickelte er sich dicke Ledergamaschen um die Beine und ein paar Lederhandschuhe schützten nicht nur seine Hände vor Schwielen beim Halten der Werkzeuge, nein, mit ihnen besaß er einen wirksamen Schutz, wenn er doch einmal eine der vielen Giftschlangen bei der Fluchtergreifung etwas unterstützen mußte. Von den anderen Landarbeitern hörte er schon des öfteren den Spitznamen “Schlangenbändiger”. Seine Söhne gewöhnten sich inzwischen auch schon an die Anwesenheit der Schlangen, die anfängliche Angst wich bald der nüchternen Erkenntnis, dass meist die Schlangen die Flucht ergriffen und eigentlich gar nicht gefährlich waren, wenn man sie in Ruhe ließ. Aufpassen mußte man nur, wenn eine Schlange meinte, ihren Nachwuchs verteidigen zu müssen, da kannten die Tiere keinen Spaß und es konnte schon einmal vorkommen, dass wenn man sich dem Nest zu dicht näherte, ein kurzes blitzartiges Verbeißen in die Ledergamaschen signalisierte, besser einen größeren Abstand zu wahren.

Jose berührte einmal nach so einer Attacke neugierig die an den Gamaschen herunterlaufende Flüssigkeit mit dem Finger, ohne daran zu denken, dass er sich zuvor an den dornigen Gebüschen eine kleine Rißwunde am Finger zugezogen hatte. Dieses Gefühl wird er sein ganzes Leben lang nicht vergessen. Kaum kam die Wunde mit dem Schlangengift in Kontakt, durchzog seinen Finger einen Schmerz, wie wenn er den Finger in eine Ansammlung glühender Kohlen halten würde. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen und er stöhnte so laut, dass sein Vater und seine Brüder sofort in panischer Angst angelaufen kamen. Sie nahmen an, dass er von einer der Giftschlangen gebissen worden wäre, und wollten sofort helfen. Langsam breitete sich der Schmerz auf die ganze Hand aus. Es war fast nicht mehr zum aushalten, Jose unterdrückte mühsam, nicht lauthals loszubrüllen.

Sein Vater sah sofort was passiert war, nahm die Hand von Jose und befahl Juan und Rinaldo, den beiden Brüdern von Jose: ”Los, schnell festhalten”. Bevor Jose reagieren konnte, führte sein Vater mit seinem Messer direkt hinter der sichtbaren Rißverletzung einen tiefen Schnitt in den betroffenen Finger aus, während er die Adern am Arm von Jose mit dem Daumen so zupresste, dass das Blut nicht mehr zum Herzen zurückfließen konnte. Antonio hielt währenddessen Joses Hand eisern fest. Aus der Schnittwunde spritzte das angestaute Blut mit einem Schwall heraus. Während Jose noch halb unter Schock über die ungewöhnliche Aktion dastand, fühlte er erleichtert, wie der Schmerz in seiner Hand und in dem Finger langsam nachließ, je mehr Blut aus der Schnittwunde auf den Boden tropfte.

Vor Schock, und vielleicht auch ein wenig über den unerwarteten Blutverlust, verspürte er plötzlich eine seltsame Müdigkeit in den Kniekehlen. Aber sich hier niederzusetzen um sich zu erholen war in keinem Fall ratsam. Seine beiden Brüder Juan und Rinaldo hielten ihn fest falls ihm doch noch die Knie nachgaben. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich wieder gefasst hatte und alleine stehen konnte. Die Blutung war inzwischen durch die Gerinnung wieder zum Stillstand gekommen – eine dicke Kruste erinnerte ihn daran, dass er heute noch einmal durch die schnelle Reaktion seines Vaters Glück gehabt hatte. Das Gift der Schlange war anscheinend fast vollständig mit dem aus der Schnittwunde austretenden Blut ausgeschwemmt worden und konnte somit seine zerstörende Wirkung nicht mehr weiter entfalten. Wenn schon eine winzige Menge Schlangengift so eine verheerende Wirkung hatte, wie mußte dann ein richtiger Biss einer Schlange wirken?

Als sie auf dem Heimweg waren, erinnerte ihn nur noch eine dicke Schwellung der Hand und ein fühlbarer, im Takt des Herzens pochender, verhaltener Schmerz an seine leichtsinnige Neugier. Seine Brüder machten schon wieder ihre Witze über sein Missgeschick. “Was hätten wir ihm denn abschneiden müssen, wenn er sich auch noch auf eine dieser Schlangen gesetzt hätte?”, fragte Juan den Vater, indem er sich dabei krampfhaft das Lachen verkniff. “Egal was, Hauptsache, das Gift kommt so schnell wie möglich wieder aus dem Körper”, kam allerdings die ernstgemeinte Antwort des Vaters, "jeder Bruchteil einer Sekunde ist kostbar und ist entscheidend für ein Überleben”. “Also eines ist sicher, kein Dieb der Welt wird uns die Bohnen von diesem Acker klauen”, sinnierte Juan laut. Jetzt konnte sich auch Carlos ein Grinsen nicht verkneifen. “Hätte ich diese Schlangen auf der Bank zur Aufbewahrung abgegeben, und nicht unser gesamtes Geld, kein noch so mächtiger Präsident würde es gewagt haben, sich an diesem “Guthaben” zu vergreifen”, meinte er lachend.

Die Mutter daheim war allerdings wenig angetan von derlei Witzeleien. “Siehst du, ich habe dich gewarnt, dass es sehr gefährlich ist, dort in diesem Feld zu arbeiten”, meinte sie vorwurfsvoll in Richtung ihres Mannes gewandt, als ihr ihre Söhne das heute Erlebte alles bis ins kleinste Detail erzählten.

Der Vorfall mit der Hand war schnell vergessen – wurde die Familie jetzt doch mit dem freudigen Ereignis entlohnt, dass sich die Pflanzen in dem angelegten Feld prächtig entwickelten. Es gab immer genügend Grundwasser und Carlos hatte um das Feld herum die wild wachsenden Sträucher als Schutz vor der sengenden Sonne stehen lassen. Anscheinend wagten sich außer den Menschen, die sich mit den Ledergamaschen vor den Schlangen schützten, auch keine Tiere in dieses Terrain – das gedeihen der anfangs zarten Pflanzen konnte man fast täglich in ihrem Fortschritt beobachten.

Heute war eine besondere Familienfeier. Carlos konnte endlich die letzte Rate für das Stück Land bei seinem Gutsherrn abbezahlen. Endlich war er der rechtmäßige Eigentümer – mit allen amtlichen Papieren – und das wichtigste – ab heute ohne Schulden. Karmen hatte auf dem kleinen Markt etwas Fleisch, Reis, Bohnen und verschiedene Gemüse, sowie die benötigten Gewürze besorgt. Auch sollte es zur Feier des Tages eine kleine Überraschung geben. Eine Einladung war auch an den Gutsherrn ergangen, und er sagte spontan zu, obwohl er sich in letzter Zeit gesundheitlich öfters unwohl fühlte. Da die Tochter von Carlos und Karmen bei ihm in seinem Haushalt in den Diensten stand, spendete er die für die Feier notwendigen Getränke. Er hatte Carmelita für den heutigen Tag selbstverständlich frei gegeben.

Dieses Mädchen war im Alter von 16 Jahren in seine Dienste getreten, nachdem sie zuvor eine Schule in der Stadt besucht, und mit dem besten Zeugnis der Klasse die Abschlußprüfung abgelegt hatte. Jetzt war sie 19 Jahre alt und manchmal erinnerte sie ihn in ihrer immer fröhlichen und unbeschwerten Art an seine viel zu früh verstorbene Frau. Wenn er sie schon einmal gefragt hatte, ob sie noch keinen Freund gefunden hätte, meinte sie nur: ”Ich habe doch noch so viel Zeit, eine Familie zu gründen – das eilt doch nicht”. So hilfsbereit wie sie war, würde er sie allerdings sehr vermissen, wenn sie eine eigene Familie gründen würde und deshalb die Dienste bei ihm kündigte. Viele vertrauliche Dinge konnte er von ihr gewissenhaft erledigen lassen – sie war sehr intelligent und half auch schon öfters bei der leidigen Buchführung fleißig mit. Im Grunde genommen war es ihm dann doch ganz recht, wenn sie mit der Familiengründung noch ein wenig wartete.

Fast alle Bekannten der Familie waren anwesend und das Fest zog sich bis spät in die Nacht. Wenn die Dunkelheit einsetzte, wurde es trotzdem nur kaum merklich kühler, und man konnte vor der Hütte auf dem freien Platz, wo die Feier stattfand, im Licht der vielen brennenden Laternen jetzt vereinzelt die aufgeregt umherschwirrenden Nachtfalter sehen. Es gab nach Anbruch der Dunkelheit in der Nacht nur ganz selten Regen oder die Kühle, von der vielfach in den Nachrichten bei anderen Ländern berichtet wurde. Bei diesen eher seltenen Festen wurde die Diskussion über Dinge der neueren Zeit meist später durch die Erzählungen, wie es früher gewesen war, abgelöst. Nach dem seltenen Genuß von alkoholhaltigen Getränken kam es dann manchmal schon vor, dass sich der eine oder andere nicht mehr über die Plünderung seines Bankkontos aufregte, sondern überraschenderweise plötzlich lautstark Witze darüber machte.

Carlos hatte allen eine Überraschung versprochen, und deshalb war sogleich jeder gespannt, als er ins Haus ging um mit seinen Gästen dieses Geheimnis nun endlich zu lüften. Er kam mit einem großen Säckchen, das oben fest zugebunden war, zurück. “Darin befindet sich die versprochene Überraschung”, verkündete er bedeutungsvoll. Jetzt war jeder gespannt. “Aber hoffentlich keine deiner lebenden Feldwächter”, witzelte einer. Carlos band das Säckchen auf und schüttete den Inhalt auf dem Tisch aus. Manche konnten einen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken. So riesige Bohnenfrüchte hatten sie selten gesehen. Stolz verkündete Carlos: ”Davon haben wir ein ganzes Feld. Manche sind sogar noch größer als die, welche ihr gerade seht”.

Das war wirklich eine Überraschung. Mit dem Verkauf solcher riesigen Bohnenfrüchte ließ sich auf dem Markt ein sehr guter Preis erzielen. Anerkennend nickte der Gutsherr Carlos zu – dass Carlos aus diesem wertlosen Stück Land so eine Schatzgrube gemacht hatte verdiente nur höchste Achtung. Verschmitzt meinte allerdings Carlos, dass er für die Einbringung der Ernte vielleicht noch einige freiwillige Erntehelfer benötigen würde. Nein, freiwillig ging dort keiner hin – waren sich alle ziemlich schnell einig. Am fröhlichen Lachen von Carlos erkannte allerdings bald auch der letzte, dass diese Einladung zur Erntehilfe nicht wirklich ernst gemeint war.

Es war nun schon im zweiten Jahr. Carlos konnte im letzten Jahr seine Bohnenernte zu einem wirklich guten Preis verkaufen und vergrößerte deshalb sein Pflanzenfeld noch weiter. Sein Gutsherr Juan Antonio, der drei eigene Lastwagen besaß, mußte seine Ernte auf den Großmarkt in die Stadt bringen und Carlos nahm das großzügige Angebot dankend an, auch seine geernteten Bohnen gleich mit auf den Markt zu transportieren um sie dort an einen Großhändler zu verkaufen. Mit dem Erlös der diesjährigen Ernte wollte Carlos sich seinen zweiten Traum, eine eigene Hütte zu besitzen, verwirklichen. Das benötigte Baumaterial bekam er in der Stadt sehr günstig, der Transport mit den Lastwagen zu seinem eigenem Stück Land war kein Problem, da die Lastwagen nach dem Verkauf der Ernte bei der Rückfahrt normalerweise nur wenige Dinge für den täglichen Gebrauch geladen hatten.

Aufgrund dessen, dass das von Carlos erstandene Terrain nur durch Überquerung des Gebiets der großen Farm seines Gutsherrn erreicht werden konnte, hatte dieser ihm zusätzlich zu dem Kaufvertrag ein Begehungsrecht schriftlich zugesichert. Dass sein Land innerhalb der riesigen Farm lag hatte große Vorteile – niemand Fremdes wagte sich auf den Grundbesitz des Gutsbesitzers, und deshalb mußte sich Carlos nie mit solchen Problemen herumschlagen wie die anderen kleinen Landbesitzer, denen manchmal kurz vor der Ernte ihre gesamten Früchte vom Feld gestohlen wurden. Das Gut wurde von fast 20 Wächtern dauernd vor den Übergriffen des immer und überall lauernden diebischen Gesindels geschützt. Die meisten dieser unliebsamen räuberisch veranlagten herumstreunenden Personen waren keine Einheimischen, sondern irgend welche arbeitsscheuen zugereisten dunkle Gestalten, die zwar gut leben wollten, aber nicht dafür bereit waren, etwas zu leisten. Man hatte schon des öfteren gehört, dass sie manchmal ganze Banden bildeten und wenn ein Gutsbesitzer von der Geldgier getrieben immer reicher werden wollte, ließen sie sich all zu gerne von ihm anheuern, um die Arbeiter unter unmenschlichen Bedingungen zu noch mehr Leistung und so gut wie keiner Bezahlung zu zwingen. Selbst die bewaffneten und gut ausgebildeten Beamten der Kontrollbehörden mußten achtgeben, wenn sie so eine sklavenartig geführte Farm kontrollierten, dass sie das Gelände wieder lebend und heil verlassen konnten. Auf diesen Farmen verschwanden viele der zu Zwangsarbeit erpressten Landarbeiter spurlos, ohne dass sich irgend jemand noch weiters um ihr Verschwinden kümmerte.

Carlos war heilfroh, sein Gutsbesitzer besaß im Gegensatz zu vielen anderen eine sehr humane Einstellung gegenüber seinen Bediensteten. Er hatte sie alle über Jahrzehnte hinweg immer gerecht behandelt und selbst in wirtschaftlich schwierigen Zeiten immer Sorge getragen, dass alle ihren Lebensunterhalt für ihre Familien bekamen. Das Land hatte schon sehr viele wirtschaftliche Hochs und Tiefs erlebt. Am schlimmsten war es immer gewesen, wenn die Ernte aufgrund einer lang anhaltenden Trockenzeit mehr als spärlich ausfiel und es dann allgemein viel Hunger und Elend gab. Die einfachen Landarbeiter hatten dann meist nicht einmal genügend Geld, um sich Medikamente zu kaufen, wenn eines ihrer Familienmitglieder erkrankt war und dringend medizinische Hilfe benötigte. Die staatlichen Krankenhäuser, die durchweg über ein sehr fachkundiges Personal verfügten, nahmen zwar die Personen, die nicht bezahlen konnten, trotzdem auf, aber die medizinische Versorgung war mit den Ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln mehr als spärlich – in den meisten Fällen, zum Leidwesen der Ärzte und der Patienten, unzureichend. Der Gutsherr von Carlos hatte da schon manchmal die Arztkosten für einen seiner Arbeiter oder dessen Familienangehörigen übernommen und später sogar die Schuld erlassen.

Carlos konnte sich noch gut zurückerinnern, es war vor mehr als zehn Jahren: Damals herrschte die schlimmste Wirtschaftskrise im Land. Die Farmer mussten aufgrund hoher Verschuldung ihre gesamte zu erwartende Kaffee-Ernte an große ausländische Firmen auf Kreditbasis im Vorab verkaufen. Die Arbeiter standen in dieser schwierigen Zeit loyal zu ihrem Dienstherrn und arbeiteten monatelang ohne Lohn fast Tag und Nacht auf den Feldern damit ihre Farm erhalten blieb. Das war auch einer der Gründe, warum auf dem Gut, im Gegensatz zu vielen anderen, ein fast familiärer Umgang zwischen dem Besitzer und den Bediensteten herrschte.

Am Sonntag würde es ein großes Fest geben, denn der Gutsbesitzer Don Juan Antonio, wie er von vielen genannt wurde, konnte an diesem Tag stolz seinen 75-zigsten Geburtstag feiern. Sein Hausarzt hatte ihn allerdings dringlichst gewarnt, auf seine Gesundheit achtzugeben, und sich etwas mehr zu schonen als bisher. In letzter Zeit meldete sich bei ihm das Alter immer häufiger in Form von stechenden Herzbeschwerden – meinte er doch immer, die Arbeiten so umfangreich und schnell wie in seiner Jugendzeit durchführen zu können. Erst wenn er nach Atem ringend stehenbleiben mußte und ein langsam von der linken Brusthälfte nach aussen ziehender Schmerz ihm signalisierte, dass er immerhin schon bald 75 Jahre erreicht hatte, wurde ihm bewußt, dass er die schwereren Arbeiten jetzt besser der jüngeren Generation überlassen sollte. War nach einer Weile der Schmerz verschwunden, war der Gedanke an Überlassen der Arbeit an die nächste Generation selbstverständlich auch gleich wieder verschwunden. Leider kamen diese „Warnungen“ in letzter Zeit immer öfter und es dauerte von Mal zu Mal auch immer länger, bis der Schmerz wieder abgeklungen war.

In dem Herrenhaus konnte man den großen, festlich geschmückten Saal bestaunen. Fast vier Wochen Arbeit steckten in den Vorbereitungen um die verschiedenen Gerichte zuzubereiten, den Saal zu gestalten, Einladungen zu schreiben und alles zu organisieren. Heute wurden sehr viele Gäste erwartet – es gab eine riesige Auswahl an Menüs und es war für jeden Geschmack gesorgt worden. Selbst eine kleine Musikkapelle hatte man für diesen besonderen Tag engagiert. Leider erhielt man vom Bruder des Jubilars und seiner Familie auf die Einladung zu dem Fest keine Antwort – er wollte vermutlich mit dem einfachen „Landvolk“ das auch bei dem Fest anwesend sein würde, nichts zu tun haben. Er hatte einmal sogar öffentlich die Aussage gemacht: „Wer mit seinem Gesinde Feste feiert, gehört selbst auch zu dem unwürdigen Gesindel“.

Als die meisten Gäste eingetroffen waren, wurde der Bruder des Gutsherrn allerdings so gut wie von keinem vermisst. Vielleicht war es sogar besser, dass er sich nicht blicken ließ – mit seinem ausschweifenden Lebensstiel konnte es durchaus passieren, dass so ein Fest durch sein herrschsüchtiges und herablassendes Verhalten schnell an Fröhlichkeit verlor.


Nachdem jeder Don Juan Antonio gratuliert hatte, wurden alle durch ein üppiges Festmahl für ihr Kommen belohnt. Wer heute nicht satt wurde, war selbst schuld. Die Kapelle spielte im Hintergrund leise die alten Melodien – mancher der Älteren dachte dabei wehmütig an seine eigene Jugendzeit zurück. Dann kam die Aufforderung zum Tanz. Na ja – trotz der Warnung des Arztes konnte man mit 75 Jahren zumindest einen Tanz noch wagen. Carlos hätte wetten können, wen der Gutsherr zur Eröffnung des Tanzes auffordern würde – Carmelita war die Auserwählte. Der alte Herr der Familie Esteban de Vargas hatte in all den Jahren nichts verlernt und fast in der gleichen schwungvollen Art wie in seiner Jugendzeit, schwebte er mit seiner Tanzpartnerin über das frisch gewachste Parkett. Carmelita erinnerte ihn in ihrer immer fröhlich und gut gelaunten Art so sehr an seine allzu früh verstorbene Frau, dass er alles um sich herum vergaß. In seinen Gedanken war er 51 Jahre in der Zeit zurückversetzt und als er die Augen schloss, glaubte er momentan seine junge geliebte Frau von damals in den Armen zu halten.

Ein heftiger nie zuvor gekannter stechender Schmerz in der linken Brusthälfte riss ihn jäh aus seinem Traum. Verzweifelt nach Atem ringend, konnte er gerade noch zu einem nahe stehenden Stuhl wanken, während Carmelita versuchte ihn vor dem Stürzen zu bewahren. Der Schmerz ließ nicht nach, im Gegenteil nahm er immer mehr an Heftigkeit zu. Er bekam inzwischen fast keine Luft mehr, auch das Öffnen seines Hemdes brachte keine Linderung. Gottseidank war auch der Hausarzt unter den anwesenden Geburtstagsgästen. Als er die blasse Fähle und die sich langsam bildenden kalten Schweißtropfen auf dem Gesicht seines Patienten sah, stellte er sofort die einzig mögliche Diagnose: Herzinfarkt.

Ein schnell verabreichtes Medikament brachte zwar etwas Linderung bei der Atemnot, die Schmerzen in der linken Brusthälfte hämmerten aber unvermindert in immer stärker werdender Intensität gegen die Rippen. Der Patient mußte so schnell wie möglich in das städtische Krankenhaus – nur dort konnte er ausreichend und wirksam medizinisch versorgt werden. Auf der quälend langen Fahrt zu dem Krankenhaus, beklagte sich der alte Herr, dass der Schmerz sich inzwischen auf den gesamten linken Arm ausgebreitet hätte, und er fast keine Luft mehr bekomme. Der Schmerz schien seine Brust mit unbarmherziger Gewalt wie mit einer stählernen Klammer immer weiter zusammenzupressen.

Carmelita war in dem Auto zusammen mit ihrem Gutsherrn und dem Arzt mitgefahren. Sichtlich erleichtert, dass ihrem langjährigen Arbeitgeber, der zu ihr immer fast wie ein Vater gewesen war, jetzt endlich richtig geholfen werden konnte, sah sie, dass das Krankenhaus gleich erreicht sein würde. Jetzt ging alles sehr schnell. Intensievstation, Versorgung mit Sauerstoff, Medikamente, Herzfrequenzmessungen. Carmelita machte währenddessen die Angaben für das Aufnahmeformular. Da sie in letzter Zeit immer die gesamte Buchführung durchgeführt hatte, wußte sie über alles Bescheid. Als sie nach einer quälend langen Zeit in den Vorraum der Intensievstation eintreten durfte, sah sie durch die schützenden Glasscheiben, dass der Patient inzwischen mit vielen Schläuchen und Kabeln an sehr teuer erscheinenden Apparaturen und Maschinen angeschlossen worden war. Als der behandelnde Arzt sich in sehr ernster Mine mit dem Hausarzt unterhielt, ahnte Carmelita nichts Gutes.

Nachdem der Hausarzt sich ihr zuwandte, sah sie ihn fragend an. Er hatte wirklich keine guten Nachrichten. Man müßte froh sein, wenn der Patient die Nacht überleben würde – eine Genesung wäre bei der Art von dieser Schädigung des Herzens leider in keinem Fall mehr vollständig erreichbar. Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Sichtlich geschockt über diese niederschmetternde Diagnose dachte Carmelita mit Sorge daran, wie es jetzt auf der Farm weitergehen sollte. Ihr Gutsherr hatte immer alles selbst entschieden und organisiert, es gab keinen Verwalter, der ihn vertreten konnte. Was würde jetzt aus all den Arbeitern und ihren Familien werden. Ihre einzigste Hoffnung bestand darin, dass der alte Herr sich doch wieder erholte und zumindest die wichtigsten Geschäfte noch regeln konnte.

Man müsse abwarten bis morgen früh, meinte der Stationsarzt – sie könnten nach hause fahren und morgen wieder herkommen. Seinem Patient hatte er ein Beruhigungsmittel auch gegen die Schmerzen verabreicht – jede Aufregung müsste jetzt vermieden werden.

Der nächste Morgen brachte sehr schlechte Nachrichten. Nach einer kaum merklichen Besserung des Zustandes des Patienten, habe ihn ein zweiter noch heftigerer Infarkt ereilt. Jeder Versuch ihn mit allen modernen Mitteln der Medizin wieder ins Leben zurückzurufen, seien leider vergeblich gewesen – der Patient sei ohne das Bewußtsein wiederzuerlangen um zwei Uhr nachts verstorben.

Diese Nachricht traf alle sehr hart. Carmelita konnte sich auf der Rückfahrt vom Krankenhaus zu der Farm nicht mehr zurückhalten und weinte die ganze Zeit. Auch sie hatte den alten Herrn ohne sich es so richtig bewußt zu werden, über die Jahre hinweg wie ihren eigenen Vater ins Herz geschlossen.

Die letzte Ehre, die sie ihrem Gutsherrn erwiesen, war die Teilnahme an der Beerdigung und anschließenden Trauerfeier. So einen großen Trauerzug hatte man außer bei einem Staatsbegräbnis wahrscheinlich noch nie gesehen. Fast jeder war sich bewußt, dass für sie alle schwere Zeiten beginnen würden – jeder fragte sich mit gesenktem Blick, ob es ohne den für alles sorgenden Gutsbesitzer künftig auf der riesigen Farm weiterhin genügend Arbeit für den Lebensunterhalt der Familien geben konnte.


Autor: Werner May


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